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Ob und inwieweit die Zivil- und Strafgerichte eine entsprechende Reduktion des Facharztstandards aus ökonomischen Gründen billigen, ist bis heute noch nicht klar entschieden.[225] Soweit sich die Rechtsprechung für einen uneingeschränkten objektiven Standard entscheiden sollte,[226] bleibt im Strafrecht abermals daran zu erinnern, dass die konkret für den Einzelnen erschwerenden Umstände auf der Ebene der Schuld unter anderem unter den Aspekten der individuellen Vermeidbarkeit und der Zumutbarkeit Beachtung finden können und ggf. müssen. Dies gilt auch deshalb, weil sich ein Übernahmeverschulden angesichts der gerade aus den Vorgaben etwa des GBA resultierenden objektiven Handlungsgrenzen schwerlich wird begründen lassen.
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Auf wirtschaftliche Grenzen der Sozialversicherung kann sich ein Vertragsarzt allerdings grundsätzlich nicht berufen, wenn Rationalisierungsmaßnahmen bzw. implizite Rationierungen, die nicht an einer einzelnen Behandlung ansetzen,[227] wie die vorgesehenen Regelleistungsvolumen die Behandlung erschweren. Hier darf die gegenüber dem Patienten übernommene Sorge so verstanden werden, dass der Arzt den Versorgungsstandard der GKV leisten wird.[228] Insoweit ist allenfalls unter besonderen Umständen und Zuspitzungen eine Unzumutbarkeit denkbar, die dann aber noch immer nicht zur stillen Anwendung eine Unterstandards, sondern zum Gespräch mit dem Patienten führen muss. Ist keine unmittelbare Notlage gegeben, kann die Garantenstellung ggf. niedergelegt werden.
i) Maßstabssteigerung bei größerem individuellen Leistungsvermögen und besserer Ausstattung
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Ein weiteres besonderes Feld der Differenzierungen bei der Standardbestimmung liegt in besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten des einzelnen Arztes. Ist die generelle, von einem umsichtigen und verständigen Arzt der jeweiligen „Berufsgruppe“ geforderte Sorgfalt eingehalten, stellt sich ggf. die Frage, ob ein größeres individuelles Leistungsvermögen im Strafrecht bei der Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabs einzubeziehen ist. „Niemand ist rechtlich verpflichtet, stets die ihm möglichen Höchstleistungen aus sich herauszuholen, ist eine in der Literatur geradezu ungleichen Fähigkeiten vielfach vertretene Ansicht“.[229] Danach ist die überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit nicht zu berücksichtigen.
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Demgegenüber verpflichtet nach herrschender Ansicht größeres individuelles Leistungsvermögen zu größerer Umsicht und Vorsicht.[230] Denn es ist „nicht einzusehen, weshalb etwa ein besonders befähigter Chirurg bei einer riskanten Operation nur diejenigen Techniken und Fertigkeiten anzuwenden verpflichtet sein sollte, die den Mindeststandard für jeden bilden, der sich überhaupt als Chirurg betätigen will“.[231] Bleibt er hinter seiner Leistungsfähigkeit zurück, verletzt der Arzt die ihm von der Rechtsordnung auferlegte und mit dem regelmäßigen Vertragsschluss auch akzeptierte Pflicht. Entsprechend muss er eine ihm zur Verfügung stehende „bessere und modernere Ausstattung“ zur Behandlung anwenden, „wenn dadurch die Heilungschancen verbessert und unerwünschte Nebenwirkungen abgewendet werden können“ (siehe schon Rn. 110 ff.).[232] Allerdings ist in diesen Fällen damit noch nicht entschieden, ob er auch vorwerfbar gehandelt hat, was z.B. im Falle unvorhersehbarer Komplikationen und dadurch bedingter Ermüdung mit der Folge eines vermeidbaren Fehlers noch immer zu verneinen sein kann.[233]
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Auch das im Zeitpunkt der Behandlung vorhandene oder zumindest aktualisierbare Sonderwissen des Arztes ist zu berücksichtigen.[234] Deshalb muss ein Arzt „auch seine speziellen Erkenntnisse zugunsten des Patienten einsetzen“, wenn er solche „für die Therapie bedeutsamen Spezialkenntnisse“ besitzt.[235] „Dabei macht es keinen Unterschied, ob diese besonderen, für die Behandlung des Patienten bedeutsamen Erkenntnisse aus der konkreten Behandlung gerade dieses Patienten herrühren oder auf abstrakter Kenntniserlangung – etwa durch ärztliche Fortbildung – beruhen“.[236] Eine unbillige Schlechterstellung des Experten bedeutet diese Rechtsauffassung nicht. Denn der Patient rechnet bei ihm mit solchem Spezialwissen und erwartet nur, dass er das tut, was er kann. Deshalb geht das Recht grundsätzlich davon aus, die soziale Verantwortung des Einzelnen an seinem (ggf. überdurchschnittlichen) individuellen Leistungszuschnitt zu messen.[237]
j) Übernahmeverschulden (sog. Übernahmefahrlässigkeit)
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Indem das Strafrecht zum Teil schon im Tatbestand (Rn. 54 ff.) und jedenfalls in der Schuld (Rn. 589 ff.) bezüglich der Sorgfaltsmaßstäbe auf subjektive Besonderheiten Rücksicht nimmt, provoziert es die Frage, ob eine unterdurchschnittliche Qualifikation des Behandelnden etwa bei einem Berufsanfänger oder einem im Übermaß entgegen § 3 ApprO-Ärzte eingesetzten Studenten im PJ zur Straflosigkeit führt, obschon in diesen Fällen ein Patient unter Außerachtlassung der objektiv erforderlichen Sorgfalt den Tod oder eine Körperverletzung erlitten hat. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil in der Praxis ggf. verschiedene Ansatzpunkte für einen Fahrlässigkeitsvorwurf vorhanden sind (vgl. auch zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang Rn. 504): Insbesondere ist die sog. Übernahmefahrlässigkeit zu beachten. Nach ihr handelt objektiv pflichtwidrig und subjektiv schuldhaft auch derjenige Arzt oder Medizinstudent, der – ohne Not – eine Tätigkeit übernimmt, der er mangels eigener persönlicher Fähigkeiten oder Sachkunde erkennbar nicht gewachsen ist[238] oder die er trotz vorhandenen Könnens und Erfahrung „aus anderen Gründen, etwa Übermüdung, Trunkenheit, Erkrankung, Medikamenteneinwirkung“[239] u.a. nicht