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Misslich daran war zunächst, dass die Rechtslehre hartnäckig den Umstand leugnete, dass die StPO seit jeher auch an anderen Stellen jedenfalls im Ergebnis rechtskräftige Beendigungen von Strafverfahren mit belastenden Folgen auch für den Beschuldigten vorsieht, die von dessen Zustimmung abhängen und mehr oder weniger auch durch diese legitimiert werden. Es konnte also schon immer davon gesprochen werden, dass neben der inquisitorischen Wahrheitsermittlung, die zahlreiche Kritiker als einzige legitime Form des deutschen Strafprozesses akzeptieren wollten, auch Alternativen der Verfahrenserledigung existierten, die mit Einvernehmlichkeit zwischen den Verfahrensbeteiligten zu tun hatten. Auf diesen Aspekt wurde schon oben und wird sodann später ausführlich im zweiten Teil des Werks eingegangen. Diese Überlegung war und ist ausschlaggebend für den hier gewählten Weg, die Urteilsabsprache in den Kontext dieser, von uns als konsensual bezeichnete Erledigungsformen, zu setzen.
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Zum anderen krankte die Literatur vor Einführung des § 257c sowie der diesen begleitenden Vorschriften daran, dass sie aufgrund ihres extrem kritischen Ansatzes Schwierigkeiten hatte, Lösungen für Einzelprobleme oder gar eine Lehre zu entwickeln, die man mit Fug und Recht als Dogmatik der Urteilsabsprache hätte bezeichnen können. Wer auf dem Standpunkt beharrte, der BGH befinde sich insgesamt auf einem Irrweg und müsse einfach jedes abgesprochene Urteil als prozessordnungswidrig ansehen und am besten aufheben, konnte sich schlecht dazu äußern, welche Urteilsabsprache denn nun lege artis vorgenommen war und welche nicht. Nebeneffekt war, dass jedenfalls die Lehre über weite Strecken diejenigen Richter, Staatsanwälte und Verteidiger alleine ließ, die sich um rechtmäßiges Vorgehen bemühten.
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Man konnte die Haltung der Literatur trotz dieser Schwächen früher noch im Ausgangspunkt akzeptieren. Das lag daran, dass der Gesetzgeber noch nicht gesprochen hatte, und dass es der Rechtswissenschaft selbstverständlich nicht verwehrt ist, eine bestimmte, in der Rechtsprechung entwickelte oder von ihr mit Konturen versehene Rechtsfigur grundsätzlich abzulehnen. Das Wort des BGH ist nicht Gesetz. Diese Ausgangslage hat sich nun aber erheblich gewandelt. Der Umstand, dass eine gesetzliche Regelung existiert – die nach der Entscheidung des BVerfG vom 19.3.2013 auch nicht als verfassungswidrig anzusehen ist – zwingt nun dazu, sich mit der Frage ihrer Anwendbarkeit zu beschäftigen.
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Letzteres gilt jedenfalls dann, wenn man, wie wir es für richtig halten, die Aufgabe der Rechtsdogmatik darin sieht „im Vagheitsbereich des positiven Rechts vernünftige Entscheidungsvorschläge zu erarbeiten“[7].
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Ganz unabhängig davon, ob man die gesetzliche Regelung für gelungen hält oder nicht, ist derjenige Rechtswissenschaftler, der sich als Rechtsdogmatiker versteht und seine Arbeit nicht ausschließlich auf die Rechtsdogmatik de lege ferenda konzentrieren will,[8] also jetzt gefordert, Anwendungsprobleme des Gesetzes aufzuspüren und sie Lösungen zuzuführen, die möglichst auf plausiblen und mit dem Gesetz vereinbaren Prämissen beruhen und zueinander nicht im Widerspruch stehen.
a) Vermischung von Rechtspolitik und Rechtsdogmatik
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Aus diesem Blickwinkel befremdet die wissenschaftliche Diskussion, wie sie seit 2009 geführt wird, durchaus und spätestens nach dem Urteil des BVerfG vom 19.3.2013 vielleicht noch mehr, als dies früher, vor Inkrafttreten der Reform der Fall war. Völlig zu Recht hat Peter Rieß im Jahre 2009 ganz im Sinne des soeben Dargelegten gefordert, ganz unabhängig vom persönlichen Standpunkt müsse nun eben das Gesetz respektiert und angewendet und es müsse eine Auseinandersetzung mit seinem legitimen Anwendungsbereich, also eine Dogmatik der Urteilsabsprache, entwickelt werden. Stattdessen äußern namhafte Lehrer des Strafprozessrechts in einschlägigen Veröffentlichungen, das Gesetz sei schlecht, nicht ernst zu nehmen, unanwendbar oder ähnliches.[9] Das wird beispielsweise damit begründet, dass apodiktisch behauptet wird, die Aufklärung der Wahrheit sei mit der Urteilsabsprache ganz grundsätzlich nicht zu vereinbaren.[10] Vielfach läuft die Kritik darauf hinaus, bereits der Gedanke, dass die Zustimmung aller Prozessbeteiligten bei der Verfahrensbeendigung im Strafprozess eine Rolle spielen könne, sei mit dem hohen Anspruch der Wahrheitsfindung unvereinbar, weswegen der Gesetzgeber allenfalls die Möglichkeit gehabt hätte, eine Art zweite Strafprozessordnung zu schaffen, die im scharfen Gegensatz zu dem inquisitorischen Strafprozess eine Art konsensuales Strafprozessrecht vorsieht und zugleich regelt, in welchen Fällen dieses zur Anwendung kommen soll.[11]
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Wir halten solche Kritik für überzogen und unplausibel. Sie stellt aus unserer Sicht eine Art Dogmatikverweigerung dar, mit der die Rechtswissenschaft ihre Aufgabe schlicht verfehlt. Im vorliegenden Text soll ein solches, destruktives Vorgehen vermieden werden. Worum es gehen soll, ist die Darstellung des Gesetzes, wie es im Jahre 2009 in Kraft getreten und, wie es von Verfassungs wegen seit dem 19.3.2013 zu verstehen ist, und auf dieser Basis konforme und mithin rechtlich vertretbare Vorschläge für die Lösung von Anwendungsproblemen zu unterbreiten. Es ist damit keineswegs gesagt, dass für die Urteilsabsprache ein sonderlich breiter Anwendungsbereich besteht. Es ist durchaus denkbar, dass die dogmatische Arbeit zu dem Resultat kommt, in einer Vielzahl von Fällen seien in der Praxis durchgeführte Urteilsabsprachen in Wahrheit gesetzeswidrig und damit rechtswidrig. Die Frage nach der Vereinbarkeit mit den Grundsätzen des Strafprozesses ist an sich natürlich berechtigt. Sie muss aber eben auf konkrete Einzelprobleme bezogen werden, die sich in der Praxis bei der Anwendung des Gesetzes stellen, und über deren Lösung man natürlich trefflich streiten kann. Aus unserer Sicht führt an diesem Weg, also an der Entwicklung einer Dogmatik der Urteilsabsprache, spätestens seit dem Jahre 2009 kein Weg mehr vorbei, denn nicht streiten kann man darüber, dass man sich an die Gesetze zu halten hat.
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Der in der Literatur nicht selten vertretene Standpunkt, § 257c und die weiteren, mit ihm neu eingeführten Vorschriften seien schlicht mit dem deutschen Strafprozess nicht vereinbar und deswegen letztlich unanwendbar, ist nach dem Vorstehenden schon deswegen nicht akzeptabel, weil die Rechtsanwendung an Gesetz und Recht gebunden ist und es Aufgabe des Rechtsdogmatikers ist, durch die Erarbeitung von Entscheidungsvorschlägen in konkreten Fällen dazu beizutragen, dass der Praktiker diesen Anspruch auch erfüllen kann. Rechtskulturell gesehen kommt hinzu, dass in der Praxis eine Vielzahl von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern sich täglich nach Kräften bemüht, die Urteilsabsprache in rechtlich wie ethisch vertretbarer Weise in die Tat umzusetzen. Schon die frühere Fundamentalkritik, aber eben auch die heutige Verweigerungshaltung einiger Rechtswissenschaftler erschweren diesen praktisch tätigen Strafjuristen ihre Arbeit ganz erheblich, weil ihnen keine klaren Maßstäbe an die Hand gegeben werden, die das rechtlich Vertretbare vom nicht Vertretbaren unterscheiden. Damit trägt die Lehre ungewollt zum weiteren Verfall der Rechtskultur bei, weil die nicht gutwilligen Justizangehörigen und Verteidiger, die sich um das Gesetz nicht scheren, sich im Ergebnis stets auf den Standpunkt zurückziehen können, das Gesetz stelle seinerseits eine Art strafprozessrechtswidrigen Strafprozessrechts dar, weswegen man in seiner Auslegung weitgehend frei sei.[12] Anders ausgedrückt: Wenn das Gesetz die Urteilsabsprache an sich zulässt, aber keinerlei Klarheit über ihren legitimen Anwendungsbereich besteht, und zwar unter anderem deswegen, weil die Literatur behauptet, hier ließe sich nichts Rationales mehr sagen, dann wird die allseits beklagte Wildwest-Haltung in der Praxis eher gefördert als eingedämmt.
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Aber auch inhaltlich vermag die Kritik am Gesetzgeber vielfach nicht zu überzeugen. Hierauf wird im Folgenden näher eingegangen, wobei wir unsere Hinweise auf einige wenige Aspekte beschränken wollen.
aa)