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Es ist leicht zu sehen, dass die dahinter stehende Vorstellung (auch) darin besteht, das Strafverfahren könne die Bereitschaft des Beschuldigten fördern, auf sein „Opfer“ zuzugehen, und falls dies mit der Folge eines schiedlich-friedlichen Auseinandergehens gelinge, müsse der staatliche „Strafanspruch“ nicht mehr in der gleichen Schärfe durchgesetzt werden, wie dies ansonsten der Fall wäre.[25] Mit diesem Konzept sind ersichtlich auch eine Aufwertung des Gedankens des Rechtsfriedens und insgesamt eine weitere, partielle Anerkennung des Konsensgedankens für den Bereich des Strafprozesses verbunden.[26]
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Dies ist bis zu einem gewissen Grade verallgemeinerungsfähig: Je größer die Bedeutung ist, die dem Geschädigten im Strafverfahren zukommt, desto mehr hängen Ob und Wie der Strafe auch von dessen Interesse und seinem Willen ab. Wo also die Strafe ursprünglich gerade im Unterschied zu zivilrechtlichen Ansprüchen nicht der materiellen Kompensation, sondern der Bekräftigung des Rechts gegenüber dem Rechtsbrecher diente, soll heute auch das Opfer zufrieden gestellt werden. Damit aber erlangt die Frage, ob zwischen dem Beschuldigten und dem oder den Geschädigten Konflikt oder Konsens vorherrscht, im Strafprozess in mehrfacher Hinsicht Bedeutung, was natürlich nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis des Strafprozesses insgesamt bleibt.[27]
3. Problematische Ausweitungen von Strafbarkeitsbereichen
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Begünstigt wurde und wird die Neigung zum Verzicht auf die Durchführung des „klassischen“ Strafverfahrens weiterhin durch eine Fehlentwicklung des materiellen Strafrechts.
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Hier besteht immer noch und sogar in deutlich verschärfter Weise der Missstand, den Eberhard Schmidt schon im Jahre 1952 (!) beklagt hat.[28] Schmidt schildert in seiner Kommentierung zu § 153 zunächst, über Jahrzehnte hinweg seien gerade im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ständig neue Straftatbestände, die der Sache nach aber Ordnungswidrigkeiten oder bloßes Verwaltungsunrecht darstellten, geschaffen worden. Er fährt sodann fort:
„StPO §§ 153 bis 154b sorgen dafür, dass sich die Verfolgungsbehörden und die Gerichte von der Bearbeitung bagatellarischer sowie solcher Angelegenheiten entlasten können, an deren strafrechtlicher Erledigung ein beachtliches Interesse vom Standpunkt deutscher Strafrechtspflege aus nicht besteht. So unentbehrlich das ist, darf nicht verkannt werden, dass die in den §§ 153 bis 154b StPO gefundene Lösung solange eine Halbheit darstellt, als nicht eine Generalbereinigung des Kriminalstrafrechts bis in die Tatbestände des StGB hinein von allem bloßem Verwaltungsunrecht, von allen Ordnungswidrigkeiten stattgefunden hat. Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch nach dieser Generalbereinigung nicht zum strengen Legalitätsprinzip zurückgekehrt werden kann. In welchem Ausmaß aber dann noch das Legalitätsprinzip durchbrochen werden müsste, ist eine Frage, die hier nicht erörtert werden kann.“
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Heute, über fünfzig Jahre später, ist zu konstatieren, dass im Großen und Ganzen das Gegenteil der von Schmidt gewünschten „Generalbereinigung“ durchgeführt worden ist, und ein Ende ist nicht in Sicht. Nicht nur, aber besonders im Wirtschaftsstrafrecht, existiert heute eine Vielzahl von Straftatbeständen, bei denen schon im Regelfall – ganz zu schweigen von problematischen Fallkonstellationen in den jeweiligen Randbereichen – der für das Strafverfahren zu betreibende Aufwand in keinem auch nur entfernt angemessenen Verhältnis zum Unrechts- und Schuldgehalt und mithin zu dem zu erwartenden Verfahrensausgang steht. Zudem sind die Schutzgüter vielfach so unklar, dass sich Wissenschaft und Rechtsprechung schwer tun, jeweils die exakten Anwendungsbereiche zu bestimmen und damit klare Aussagen darüber zu treffen, welches eigentlich diejenigen Verbrechen im materiellen Sinne sind, gegen die das Strafrecht als ultima ratio des Rechts eingesetzt werden soll.[29] Damit dürfte übrigens auch zusammenhängen, dass viele gerade neu eingeführte oder mit der üblichen Ausweitungstendenz reformierte Straftatbestände sich in der Praxis recht selten tatsächlich in Gerichtsurteilen wieder finden.[30]
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Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung trägt hier ein gewisses Maß an Mitverantwortung, weil der BGH in einigen Bereichen des Straf- insbesondere auch des Wirtschaftsstrafrechts für einzelne Tatbestände ständig neue Fallgruppen eröffnet und die Grenze zwischen bloß rechtswidrigem Verhalten, insbesondere reinen Vertragsverletzungen und strafbaren Handlungen zusehends verwischt wird.[31] Staatsanwaltschaften entwickeln zudem in der Praxis nicht selten die Tendenz, bisher höchstrichterlich nicht geklärte Fragen exemplarisch anhand geeigneter Fälle vor Gericht zu bringen, um so – auf dem Rücken der Beschuldigten – zur Rechtsfortbildung beizutragen.[32] Es liegt auf der Hand, dass die Beschuldigten vielfach daran interessiert sind, es nicht so weit kommen zu lassen und mithin konsensuale Ergebnisse innerhalb und außerhalb des Hauptverfahrens nicht selten deswegen gerade von den Verteidigern angestrebt werden, weil völlig offen ist, was der BGH am Ende eines mehrjährigen, öffentlichen, für den Mandanten mit zahlreichen Belastungen verbundenen Strafverfahrens in der jeweiligen Konstellation entscheiden würde. Dabei sind die Perspektiven der Beteiligten durchaus unterschiedlich, und bis zu einem gewissen Grade müssen sie es auch sein: Während Staatsanwaltschaft und Gericht die Tatvorwürfe in rechtlicher Hinsicht für begründet halten müssen, möglicherweise aber die Verkürzung der Beweisaufnahme oder die Schaffung von Rechtsfrieden anstreben, kann aus Sicht der Verteidigung die Urteilsabsprache gerade deswegen attraktiv sein, weil die materielle Rechtslage als unklar eingeschätzt wird. Die dem Gesetzgeber und auch der Rechtsprechung der Revisionsgerichte zuzurechnenden Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten bei der Beurteilung der jeweiligen Rechtsfragen, die in relativ vielen Verfahren im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts auftreten, dürften auch deswegen eine Mitursache für die Häufigkeit einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen sein.
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Der von Eberhard Schmidt seinerzeit verwendete Begriff „Halbheit“ jedenfalls würde heute einen veritablen Euphemismus darstellen.
4. Vom Strafprozess zum Meta-Verfahren
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Die Neigung der Beteiligten zu konsensualen Verfahrensweisen wird schließlich, zumindest in Teilbereichen wie etwa dann im Wirtschaftsstrafrecht, im weitesten Sinne durch die massiv gestiegene Komplexität begünstigt, die Wirtschaftsstrafverfahren ab einer gewissen Größenordnung in der heutigen Informations- und Mediengesellschaft angenommen haben und die sie für die handelnden Personen nur noch schwer beherrschbar macht.
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Was hiermit gemeint ist, sei an einem Beispiel verdeutlicht: Wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank von einer deutschen Staatsanwaltschaft bei einem deutschen Landgericht wegen Untreue angeklagt wird und sich in zwei langen Hauptverhandlungen verantworten muss, dann wird nicht mehr ausschließlich die Frage geklärt, ob unter vielen weißen ein schwarzes Schaf ausgemacht worden ist, ob also der Angeklagte schuldhaft einen Straftatbestand erfüllt und sich damit gegen den konsentierten Grundbestand der zentralen Werte unserer Gesellschaft gestellt hat, kurz: zum Verbrecher im materiellen Sinne geworden ist. Vielmehr werden Sachverhalte verhandelt, die bereits in tatsächlicher, erst recht aber in normativer Hinsicht nicht einmal mehr vom Fachpublikum, noch weniger von den beteiligten Journalisten und erst recht nicht von der Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit überhaupt noch vollständig überblickt und verstanden