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Kurz: Wo im klassischen Bild des Strafprozessrechts der Tatvorwurf in der Regel[33] klar umrissen, die Tatbestände für jeden einigermaßen gebildeten Bürger verständlich, die Öffentlichkeitswirkung des Verfahrens relativ beschränkt und seine Folgen im Wesentlichen auf den konkreten Fall eingrenzbar gewesen sein dürften, ist das Strafverfahren im Allgemeinen, die Hauptverhandlung aber im Besonderen, im Wirtschaftstrafrecht heute vielfach zu einem medial aufbereiteten, gesellschaftlichen Großereignis mit unüberschaubaren Ursachen und Wirkungen mutiert.[34] Auch aus diesem Blickwinkel ist es nahe liegend, dass die Beteiligten nach Auswegen suchen, und ein solcher besteht eben darin, das Verfahren entweder von vornherein unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen oder es unter Beschränkung auf seinen fassbaren Kern, der zumindest zwischen den Verfahrensbeteiligten auch einer auf sachliche Aspekte konzentrierten Kommunikation zugänglich ist, in einer kurzen, abgesprochenen Hauptverhandlung zu erledigen.
5. Zwischenfazit
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Die Aufzählung möglicher Ursachen ist sicher nicht vollständig. Es sollte aber schon jetzt deutlich geworden sein, dass die in der veröffentlichten Meinung zuweilen recht schlicht ausfallenden Ursachenbeschreibungen der Komplexität des Phänomens nicht angemessen sind. Insbesondere die verbreitete These, die Praktiker benähmen sich eben aus Unachtsamkeit, Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit daneben und müssten und könnten wie ungezogene Kinder durch ein Machtwort des Gesetzgebers oder der Rechtsprechung erzogen und buchstäblich auf den Weg des Rechts zurückgeführt werden, greift angesichts der Hintergründe der Entwicklung – ganz gleich, ob man diese begrüßt oder ablehnt – bei weitem zu kurz.
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Weitaus näher liegt die Annahme, dass die handelnden Strafjuristen in aller Regel schlicht bemüht sind, sich einerseits an die in vielerlei Hinsicht geänderten Verhältnisse anzupassen und andererseits nach Möglichkeit den Boden des Rechts nicht zu verlassen. Dass die auf staatlicher Seite handelnden Juristen immer mehr zur Verfahrensverkürzung per Verständigung neigen, verwundert im Übrigen auch deswegen nicht, weil nicht nur seit Generationen von Seiten des Gesetzgebers dem Postulat der „Prozessökonomie“ immer größere Bedeutung zugemessen worden ist, sondern auch analog hierzu die Geschwindigkeit der Erledigung von Rechtssachen für die Justizverwaltungen zu dem oder zumindest einem wesentlichen Kriterium bei der Beurteilung ihrer Beamten und damit zum bedeutenden Aufstiegskriterium geworden ist. Verteidiger wiederum finden oft nur schwer Alternativen zur Absprache, wenn es darum geht, Mandanten zufrieden zu stellen, die nicht um Freisprüche kämpfen, sondern kurze, kalkulierbare und aus ihrer Sicht tragbare Verfahrensverläufe und -ergebnisse erwarten. Wirtschaftlich wäre die Durchführung einer langwierigen und aufwändigen Hauptverhandlung dagegen für den Strafverteidiger oft lukrativer.
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Wer sich also mit der gestiegenen Bedeutung konsensualer Verfahrensweisen im Strafprozess auseinandersetzt, kommt kaum daran vorbei, zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass die Praxis des Strafprozesses sich nicht im luftleeren Raum entwickelt hat, sondern im Wesentlichen durch politische Vorgaben bestimmt ist, die ihrerseits gesellschaftlichen Entwicklungen, beispielsweise der in allen Lebensbereichen moderner Industriegesellschaften gestiegenen Bedeutung ökonomischer Betrachtungsweisen, aber eben auch gewandelten Vorstellungen von Zweck und Funktion des Strafrechts folgen. Das beinhaltet zwar für sich genommen natürlich noch keine Bewertung, und die Existenz der §§ 153 ff., 257c, 407 ff. stellt selbstverständlich keine Legalisierung oder auch nur Legitimation jeder Verständigung dar.[35] Das Bewusstsein von den oben skizzierten Zusammenhängen sollte aber immerhin dazu beitragen, das Phänomen der konsensualen Vorgehensweisen im Allgemeinen und der Urteilsabsprache im Besonderen nicht von vornherein aus einem verengten, vorurteilsbehafteten Blickwinkel zu betrachten und zu bewerten.
Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › C › III. Erste praktische Konsequenzen der Bindung an das geltende Recht
1. Kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Prozessrecht und Mandanteninteresse
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Der Grundsatzstreit über die Zulässigkeit insbesondere der Urteilsabsprache ist jedenfalls seit der Gesetzesänderung als endgültig erledigt anzusehen. Der Gesetzgeber hat entschieden. Dass von Verfassungs wegen keine durchgreifenden Bedenken bestehen, hat das BVerfG jüngst (erneut) entschieden.[36] Folglich kann in der Praxis der Strafjustiz, bis auf weiteres alleine auf der Ebene des geltenden Strafprozessrechts – in der vom BVerfG vorgegebenen Auslegung – diskutiert werden.[37] Es stellen sich also primär Fragen der Rechtsauslegung und der Gestaltung bestehender Handlungsspielräume. Dies gilt für die anderen Möglichkeiten konsensualer Verfahrensbeendigung[38] bereits seit langer Zeit.
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Im Vergleich zu Staatsanwälten und Strafrichtern befinden sich dabei die Verteidiger in der weitaus schwierigsten Lage. Für jene stellen die Möglichkeiten einer konsensualer Verfahrensbeendigung und stellt insbesondere die Urteilsabsprache schlicht eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten dar. Wenn sie meinen, ein Fall eigne sich dafür und es sei, insbesondere aufgrund des von Seiten der Politik ausgeübten Erledigungsdrucks, angezeigt, das Verfahren zu verkürzen, können sie die Verfahrenserledigung durch ein abgesprochenes Urteil (oder durch einen Strafbefehl bzw. eine Einstellung nach Erfüllung von Auflagen) anstreben, solange sie nicht gegen §§ 136a, 244 Abs. 2, 257c, 261 oder andere Vorschriften des geltenden Rechts verstoßen und sich zudem an die vom BGH entwickelten (und vom BVerfG gebilligten) Regeln halten, ohne dabei in Konflikt mit dem Gesetz, wie es BGH und BVerfG verstehen, zu kommen. Justizvertreter können dies, etwa weil sie Anhänger der Grundsatzkritik sind, aber auch unterlassen und, wie Schünemann formuliert, den Strafprozess von 1877 durchführen.[39] Es ist ihnen auch heute noch[40] völlig unbenommen, Verständigungsgespräche schlicht von sich zu weisen und bis zum Urteil ohne jede Einschränkungen den, wie die ehemalige Generalbundesanwältin Monika Harms formuliert hat, „streng formellen, der Rechtssicherheit dienenden Rechtssätzen des Strafprozesses“[41] zu folgen.
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Für den Strafverteidiger sieht die Sache anders aus. Er ist den Interessen des Mandanten verpflichtet und mithin gehalten, diesen zumindest umfassend darüber aufzuklären, welche konkreten Verteidigungshandlungen nach dem geltenden Recht möglich und welche Chancen und Risiken damit jeweils verbunden sind. Nur so hat der Mandant die Möglichkeit, eine freie Entscheidung über die von ihm bevorzugte Verteidigungsstrategie gemeinsam mit dem Verteidiger zu treffen. Hinzu kommt, dass der Verteidiger selbst dann, wenn er von sich aus keinerlei Initiative in Richtung auf ein konsensuales Verfahren entwickeln will oder kann, nicht selten mit entsprechenden Vorschlägen, vulgo: Angeboten der Staatsanwaltschaften oder Gerichte, konfrontiert ist. Spätestens in diesem Moment ist er gezwungen, sich sowohl mit der Rechtmäßigkeit der ihm angesonnenen Verhaltensweisen wie auch damit zu befassen, ob die Führung entsprechender Gespräche mit den anderen Verfahrensbeteiligten für seinen Mandanten voraussichtlich eher Vorteile oder eher Nachteile bringen wird.[42]
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