Für praktisch tätige Strafjuristen resultiert bereits aus den mittlerweile extensiven Anwendungsbereichen des Strafbefehlsverfahrens sowie der §§ 153 ff. mit ihren verschiedenen Zustimmungserfordernissen tagtäglich die Notwendigkeit, konsensuale Verfahrensweisen durchzuführen. Wollen sie nicht offen gegen den Gesetzgeber rebellieren und Rechtspolitik betreiben, wo Rechtsanwendung gefragt ist, haben sie gar keine andere Wahl, als beispielsweise in Fällen, die für die Anwendung des § 153a in Frage kommen, über ein entsprechendes „Austauschgeschäft“ nachzudenken und selbstverständlich auch miteinander zu sprechen.[27] Ganz gleich, in welchen Konstellationen Absprachen letztlich angezeigt sind und wie der Gesprächsprozess im Einzelnen vor sich geht,[28] ist es offensichtlich, dass dies auch und gerade für die Verteidiger gilt. Sie verhalten sich heute nur noch dann pflichtgemäß und arbeiten kunstgerecht, wenn sie in Fällen, in denen eine Einstellung bei Erbringung einer der in § 153a genannten Gegenleistungen oder der Erlass eines Strafbefehls in Betracht kommt, den Mandanten über Verständigungsmöglichkeiten aufklären, ihm, wo es angezeigt ist, zur Absprache raten und diese ggf. sachgerecht in die Tat umsetzen, selbst wenn sie dies der Gefahr aussetzt, anschließend als „Dealer“, Fürsprecher eines Sonderrechts für Gutverdienende oder was auch immer bezeichnet zu werden und entsprechend in Verruf zu geraten.[29] Schon früher konnte sich der Verteidiger wegen der Existenz der §§ 153 und 407 ff. nicht durchweg auf die Strategie beschränken, in der Hauptverhandlung bis zuletzt für die Unschuld seines Mandanten zu kämpfen. Heute ist dies angesichts der im Gesetz angelegten, überragenden praktischen Bedeutung dieser Arten einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen erst recht nicht mehr angezeigt, weil man sonst zahlreiche Chancen, die der konsensuale Weg für den Mandanten gerade auch vor der Eröffnung einer Hauptverhandlung mit sich bringen kann,[30] von vorneherein ungenutzt lassen und dem Mandanten so vielfach letztlich vermeidbar Schaden zufügen würde.
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Schon aus diesen Gründen ist die Fähigkeit, Strafverteidigung nicht nur als Kampf,[31] sondern auch als Kooperation zu begreifen und zu betreiben, heute für den Verteidiger unverzichtbar. Dies gilt dabei nicht nur im von der breiten Öffentlichkeit insofern besonders stark wahrgenommenen Bereich des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts. Man mag das als Aufweichung eines alten Ideals von einem ausschließlich Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Strafprozess empfinden und deswegen beklagen. Der Gesetzgeber hat es aber so gewollt,[32] und solange sich der seit Generationen zu beobachtende Trend zu stetiger Vereinfachung und Verbilligung der Verfahren bei gleichzeitig ständig steigenden Erwartungen an das Strafrecht nicht ändert, ist die Praxis gezwungen, sich danach zu richten. Ein Königsweg steht den handelnden Strafjuristen im konkreten Fall nicht offen: So entscheidet man sich entweder dafür, dem Legalitätsprinzip Vorrang vor dem Opportunitätsprinzip zu geben oder umgekehrt. Ein bisschen einstellen kann man ein Strafverfahren nicht.[33]
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Die im Schrifttum vielfach, teils scharf kritisierte[34] und zuweilen alleine der Praxis (und inzwischen gerade im Hinblick auf dessen Rechtsprechung zu den Urteilsabsprachen auch dem BGH) angelastete, vermeintliche Abkehr von hergebrachten Grundsätzen des deutschen Strafprozessrechts war also schon früher an mehreren Stellen in der StPO selbst angelegt. Einführung und Ausbau konsensualer Verfahrensweisen beruhen seit langem in weiten Bereichen auf gezielten gesetzgeberischen Entscheidungen[35]. Aus dieser Perspektive stellt sich die von vielen und sicherlich auch zutreffend diagnostizierte Entwicklung hin zu noch weiter gehenden Verständigungen, insbesondere die nunmehr ebenfalls ausdrücklich in § 257c normierten Urteilsabsprachen in der Hauptverhandlung – ob man sie nun begrüßt oder nicht – in gewisser Weise als vor dem Hintergrund der über Jahrzehnte zu beobachtenden Tendenz der Eingriffe des Gesetzgebers in die StPO folgerichtig dar: Letztlich wurde – so viel schon an dieser Stelle – versucht, die Kluft zwischen § 153a und §§ 407 ff. auf der einen und der scharf davon abzugrenzenden, ganz auf Wahrheitsfindung ausgerichteten Hauptverhandlung auf der anderen Seite, zu überbrücken.
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Festzuhalten ist bereits an dieser Stelle schließlich auch: Nicht die Urteilsabsprache, sondern die außerordentlich weiten Anwendungsbereiche der in der StPO selbst seit langem verankerten Wege konsensualer Verfahrensbeendigungen haben zwangsläufig ein verändertes Bild des Verteidigers entstehen lassen, der sich heute vielfach zwar nach wie vor in der Rolle des engagierten Streiters, zugleich aber derjenigen eines Diplomaten und Organisators des Konsenses wieder findet.[36] Die Entwicklung im Bereich der Urteilsabsprache wird dies weiter befördern. Damit verbunden sind unweigerlich mannigfaltige neue Schwierigkeiten und Aufgaben, auf die im weiteren Text, insbesondere im zweiten und dritten Teil der Darstellung, ausführlich zurückzukommen sein wird.
Teil 1 Grundlagen: Für den Konsens, gegen den „Deal“ › B › II. Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren im Überblick
1. Entstehungsgeschichte
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Dem „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29.7.2009[37], mit dem die §§ 35a, 44, 160b, 202a, 212, 243, 257b, 257c, 267, 273 und 302 sowie § 78 OWiG mit Wirkung zum 4.8.2009 neu eingeführt bzw. geändert wurden, ging nicht nur eine intensiv und teilweise geradezu die Dimension eines Glaubenskriegs annehmende Diskussion in der Fachöffentlichkeit voraus. Vielmehr war, wie bereits oben ausgeführt worden ist, bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Einführung des § 153a die Möglichkeit geschaffen worden, sich im Einvernehmen aller Verfahrensbeteiligten in jedem Verfahrensstadium darauf zu verständigen, auf eine endgültige Klärung der erhobenen Vorwürfe zu verzichten, bestimmte Auflagen und Weisungen als Ausgleich für (möglicherweise) bestehende Schuld festzulegen und auf diese Weise das Strafverfahren mit (beschränkter) Rechtskraftwirkung zu beenden ohne dass damit allerdings ein Schuldspruch verbunden wäre. In vielen Fällen konnte die Praxis seit jeher zudem, ebenfalls das Einverständnis aller Beteiligten vorausgesetzt, auch einen abgekürzten Schuldspruch in Rechtskraft erwachsen lassen, indem die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht den Erlass eines Strafbefehls, §§ 407 ff., beantragte und der Betroffene sich gegen diesen sodann nicht wehrte. Die Praxis hatte parallel – wann damit begonnen wurde, soll hier offen bleiben[38] – diese Möglichkeiten der vom Konsens getragenen Verfahrensverkürzung durch Verzicht auf umfassende Sachaufklärung auch in das strafprozessuale Hauptverfahren hineingetragen. Aus der hier gebotenen Perspektive ist das alles andere als verwunderlich: Wenn ein rechtskräftiger Schuldspruch ganz ohne mündliche Verhandlung im Strafbefehlsweg und ein rechtskräftiger Verfahrensabschluss ganz ohne Klärung der Unrechts- und Schuldfrage möglich ist, und wenn zugleich anerkannt ist, dass eine geständige Einlassung des Beschuldigten strafmildernd berücksichtigt werden kann, dann liegt es nahe, sich die Frage zu stellen, warum nach den strengen Maßstäben des § 244 Abs. 2 in der Hauptverhandlung buchstäblich jeder Stein noch einmal herumgedreht werden soll, auch wenn keiner der Beteiligten irgendein Interesse daran hat. Die Einführung der Urteilsabsprache in die StPO folgte also einem evidenten praktischen Bedürfnis.
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Der BGH, der in Revisionsverfahren insbesondere über verschiedene Verfahrensrügen[39] mit der Frage nach der Zulässigkeit von Urteilsabsprachen befasst war, hatte davor bereits im Jahr 1997[40] die Aufgabe übernommen, ein zumindest grobes Raster zu entwickeln, innerhalb dessen sich die Urteilsabsprachen bewegen sollten. Die übrigen Strafsenate waren dem seinerzeit unter Vorsitz von Meyer-Goßner entscheidenden 4. Strafsenat in seiner grundsätzlichen, die Urteilsabsprache nicht generell verwerfenden, ihr aber einen normativen Rahmen gebenden Linie gefolgt.[41] Der 4. Strafsenat des BGH war dabei im Kern davon ausgegangen, dass es dem Gericht nicht verwehrt sein könne, den Beschuldigten, aber auch die Staatsanwaltschaft zu irgendeinem Zeitpunkt, vor allem während der Hauptverhandlung, auf eine vorläufige