35
Überflüssig ist ein Angebot, wenn alle Anteile des übertragenden Rechtsträgers bereits in der Hand des übernehmenden Rechtsträgers sind (Winter/Grunewald in Lutter, § 29 Rn 19; Kalss in Semler/Stengel, § 29 Rn 23; Henssler/Strohn/Müller UmwG, § 29 Rn 16).
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Die Verpflichtung fällt weg, wenn alle Anteilsinhaber zuvor den Verzicht auf ein Barabfindungsangebot erklärt haben (vgl Vorb zu §§ 29–34 Rn 5). Der Wille zum Verzicht muss sich in Anlehnung an vergleichbare Regelungen im UmwG (§§ 8 Abs 3, 12 Abs 3, 30 Abs 2) ausdrücklich aus der Erklärung des Anteilsinhabers ergeben (Vollrath in Widmann/Mayer, § 29 Rn 38; Winter/Grunewald in Lutter, § 29 Rn 11). Str ist, inwieweit aus Gründen der Rechtssicherheit und zum Schutz der Anteilsinhaber wie im Fall der Verzichtserklärung gem § 32 Abs 2 bes Anforderungen an die Form einer Verzichtserklärung zu stellen sind, wie zB eine notarielle Beurkundung oder Aufnahme in den Verschmelzungsbeschluss (differenzierend Vollrath in Widmann/Mayer, § 29 UmwG Rn 38; abl Winter/Grunewald in Lutter, § 29 Rn 18). Beruft sich der Anteilsinhaber darauf, dass er keinen Verzicht erklärt hat, muss er nur den Widerspruch gegen den Verschmelzungsbeschluss nachweisen. Die aufgenommene Verzichtserklärung hat insoweit lediglich Indizwirkung. Für die Wirksamkeit und die (nachträgliche) Beseitigung einer Verzichtserklärung gelten die allg zivilrechtlichen Vorschriften über die Beseitigung einer Willenserklärung durch Anfechtung oder Widerruf.
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Verstößt der übernehmende Rechtsträger gegen die Verpflichtung, weil er kein Barabfindungsangebot in den Verschmelzungsvertrag aufnimmt, hindert dies nicht den Vollzug der Verschmelzung. Aus §§ 32, 34 folgt, dass sich der Rechtsschutz der widersprechenden Anteilsinhaber insoweit auf das Spruchverfahren beschränkt.
2. Vorrang vor Kapitalschutzvorschriften (§ 29 Abs 1 S 1 2. HS)
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Ist der übernehmende Rechtsträger eine GmbH oder eine AG, kann die Verpflichtung zum Erwerb der eigenen Anteile mit den gesetzlichen Kapitalschutzvorschriften kollidieren. Das UmwG löst diesen Konflikt in § 29 Abs 1 S 1 2. HS zugunsten der widersprechenden Anteilsinhaber, da es § 71 Abs 4 S 2 AktG und § 33 Abs 2 S 3 2. HS 1. Alt GmbHG für nicht anwendbar erklärt. Folge der Nichtanwendbarkeit beider Vorschriften ist, dass trotz eines Verstoßes gegen die Kapitalschutzvorschriften nicht nur der dingliche, sondern auch der schuldrechtliche Teil des Erwerbsgeschäft wirksam ist. Eine Rückabwicklung wegen rechtsgrundlosen Erwerbs gegen den Willen der Anteilsinhaber ist nicht möglich.
a) Erwerb eigener Anteile durch AG (§ 71 Abs 4 S 2 AktG)
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Gem § 71 Abs 1 Nr 3 AktG ist der Erwerb eigener Anteile im Rahmen einer Umw zur Abfindung von Anteilsinhabern ausdrücklich zulässig. Gem § 71 Abs 2 S 1 AktG ist der Erwerb jedoch auf 10 % des Grundkapitals beschränkt. Außerdem muss die AG gem § 71 Abs 2 S 2 AktG im Erwerbszeitpunkt für die eigenen Aktien eine Rücklage bilden können (§ 272 Abs 4 HGB), ohne das Grundkapital oder eine nach Gesetz oder Satzung zu bildende Rücklage zu mindern, die nicht für Zahlungen an die Aktionäre verwendet werden darf. Ein Verstoß gegen diese Voraussetzungen beseitigt nicht die dingliche Wirksamkeit des Erwerbs (§ 71 Abs 4 S 1 AktG). Der Verstoß führt aber aber grds zur Unwirksamkeit des Verpflichtungsgeschäfts (§ 71 Abs 4 S 2 AktG), so dass das rechtsgrundlose Erwerbsgeschäft eigentlich rückabgewickelt werden könnte.
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Aufgrund der gesetzlichen Anordnung in § 29 Abs 1 S 1 2. HS bleibt zugunsten der widersprechenden Anteilsinhaber auch das Verpflichtungsgeschäft wirksam, da § 71 Abs 4 S 2 AktG hiernach keine Anwendung findet. Eine Rückabwicklung gegen den Willen der ehemaligen Anteilsinhaber ist nicht möglich. Auch vor der Annahme des Angebots durch den widersprechenden Anteilsinhaber kann der übernehmende Rechtsträger sein Angebot nicht durch Widerruf beseitigen oder nach Annahme die Erfüllung des Erwerbsgeschäfts unter Berufung auf ein Leistungsverweigerungsrecht verhindern (Winter/Grunewald in Lutter, § 29 Rn 26; aA Schmitt/Hörtnagel/Stratz § 29 Rn 13; Marsch-Barner in Kallmeyer, § 29 Rn 27). Das UmwG wertet die Interessen des widersprechenden Anteilsinhabers höher als die Verpflichtung des übernehmenden Rechtsträgers zum Erhalt des eigenen Kapitals.
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IÜ bleiben die gesetzlichen Vorschriften zum Schutz des Kapitals der AG anwendbar. Verstößt der Erwerb der eigenen Anteile gegen Barabfindung gegen die Voraussetzungen in § 71 Abs 2 AktG, muss die AG die erworbenen Anteile fristgerecht wieder veräußern oder einziehen (vgl § 71c AktG). Kann zum Bilanzstichtag die Rücklage iSd § 272 Abs 4 HGB nicht gebildet werden, ist der Jahresabschluss nichtig (§ 256 Abs 1 Nr 1 AktG). Nicht anwendbar ist dagegen die Haftung der Aktionäre für unzulässige Rückgewähr der Einlagen gem §§ 57 Abs 1, 62 AktG, weil die Anordnung in § 29 Abs 1 S 1 2. HS gerade bezweckt, dass die Anteilsinhaber den Vermögenswert ihrer Anteile dauerhaft realisieren (Winter/Grunewald in Lutter, § 29 Rn 27; Vollrath in Widmann/Mayer, § 29 Rn 29).
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War bereits vor bzw im Zeitpunkt der Beschlussfassung der Aktionäre des übernehmenden Rechtsträgers absehbar, dass die Voraussetzungen des § 71 Abs 2 AktG, § 272 Abs 4 HGB nicht zu erfüllen sind, führt dies zur Rechtswidrigkeit und Anfechtbarkeit des Verschmelzungsbeschlusses der Anteilsinhaber beim übernehmenden Rechtsträger (hM Winter/Grunewald in Lutter, § 29 Rn 24; Kalss in Semler/Stengel, § 29 Rn 33; Marsch-Barner in Kallmeyer, § 29 Rn 27; aA für die 10 %-Grenze Schmitt/Hörtnagel/Stratz § 29 Rn 12, der darauf hinweist, dass dem übernehmenden Rechtsträger Möglichkeiten für eine Korrektur bleiben). Anfechtungsberechtigt sind nur die Anteilsinhaber des übernehmenden Rechtsträgers. Prüfungsmaßstab ist aus ex-ante-Sicht, ob die Geschäftstätigkeit des übernehmenden Rechtsträgers es erlaubte, bis zum Bilanzstichtag genügend freies Vermögen iSd § 71 Abs 2 S 2 AktG zur Bildung der Rücklage iSd § 272 Abs 4 HGB zu erwirtschaften (vgl Vollrath in Widmann/Mayer, § 29 Rn 31.2).
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Der Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften führt nicht zur Rechtswidrigkeit und Anfechtbarkeit des Verschmelzungsbeschlusses durch die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers, weil die Kapitalerhaltungsvorschriften nur den übernehmenden Rechtsträger betreffen. Eine diesbezügliche Anfechtung des Verschmelzungsbeschlusses durch die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers würde daher im Grunde ausscheiden. Da sich die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers aber nicht auf eine Anfechtung durch Anteilsinhaber des übernehmenden Rechtsträgers wegen eines Verstoßes gegen Kapitalerhaltungsvorschriften verlassen müssen, steht auch Ihnen ein entspr Recht zur Anfechtung zu, um der ggf bestehenden Unwirksamkeit ihres Erwerbs von Aktien an der übernehmenden Gesellschaft Rechnung zu tragen, wenn aus ex-ante-Sicht bereits vor Fassung des Verschmelzungsbeschlusses