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In das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird beispielsweise durch die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters i.S.d. § 81g StPO eingegriffen.[187] Bei der Auslegung und Anwendung des § 81g StPO sind die Gerichte daher gehalten, die Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts angemessen zu berücksichtigen.[188] Der für die Anordnung einer DNA-Identitätsfeststellung erforderlichen Prognose, dass gegen den Beschuldigten erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden, muss eine zureichende Sachaufklärung vorausgegangen sein; darüber hinaus müssen die für die Prognoseentscheidung bedeutsamen Umstände nachvollziehbar dargestellt und abgewogen werden.[189] Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist.[190]
II. Gleichheitssatz und Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG)
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Das BVerfG entnimmt dem in Art. 3 Abs. 1 GG verbürgten allgemeinen Gleichheitssatz ein Willkürverbot, das in der älteren Rechtsprechung des Gerichts auf die Formel gebracht wurde, es dürfe „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich“ behandelt werden.[191] Nach der im Jahr 1980 durch den Ersten Senat begründeten sog. „neuen Formel“ ist Art. 3 Abs. 1 GG hingegen „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können“.[192] In diesem Zusammenhang wird weiter hervorgehoben, dass der Gleichheitssatz sich nicht im Verbot ungerechtfertigter Ungleichbehandlungen von Normadressaten erschöpft, sondern auch ein allgemeines Willkürverbot als fundamentales Rechtsprinzip enthält, dessen Grenzen dann überschritten sind, „wenn eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch die Gerichte bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruht“.[193]
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Die Hürden für die Annahme, dass eine strafgerichtliche Entscheidung gegen das allgemeine Willkürverbot verstößt, sind damit hoch gesetzt. Zwar wird die verfassungsrechtliche Prüfung anhand objektiver Kriterien durchgeführt, und ein schuldhaftes Verhalten des Richters wird nicht vorausgesetzt. Hat das Gericht sich jedoch mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt und entbehrt seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes, so ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt. Dies ist erst der Fall, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird.[194] Nach Ansicht des BVerfG erfüllt daher etwa die Auslegung des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO durch den BGH, die äußerst strenge Anforderungen an die Begründung revisionsrechtlicher Verfahrensrügen nach sich zieht, nicht die vorstehend skizzierten Anforderungen für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG.[195] Eine „krasse Missdeutung“ des Norminhalts im vorerwähnten Sinn hat das BVerfG hingegen beispielsweise in einer Auslegung der §§ 1 Abs. 1 Nr. 2, 2 StrRehaG durch die Fachgerichte gesehen, durch welche dem von einer zwangsweisen Heimunterbringung in der ehemaligen DDR Betroffenen eine Rehabilitierung verweigert wurde.[196] Weitere Entscheidungen des Gerichts mit strafprozessualem Einschlag betrafen die Revisionsverwerfung durch Beschluss gem. § 349 Abs. 2 StPO ohne Antrag der Staatsanwaltschaft,[197] die Versagung der Einsicht in den bei den Strafakten befindlichen Strafregisterauszug[198] sowie das Unterbleiben einer „Negativmitteilung“ i.S.d. § 243 Abs. 4 S. 1 StPO;[199] im Rechtsbeschwerdeverfahren nach §§ 116 ff. StVollzG hat das BVerfG eine Verletzung des Willkürverbotes aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Verneinung einer rechtsmittelfähigen Beschwer in einem Fall gesehen, in dem die Strafvollstreckungskammer auf einen Verpflichtungsantrag lediglich eine Neubescheidung des Antragstellers angeordnet hatte.[200]
C. Aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den materiellen Grundrechten abgeleitete Prozessmaximen
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Aus einer Zusammenschau des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und verschiedener materieller Grundrechte leitet das BVerfG eine Reihe verfassungsrechtlich fundierter Prozessmaximen ab, die gleichsam eine „Zwischendecke“[201] zwischen den Ebenen des spezifischen Verfassungsrechts und des einfachen Gesetzesrechts bilden und den durch die materiellen Grundrechte, die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) sowie die Justizgrundrechte (Art. 101 ff. GG) gewährleisteten Schutz gegen hoheitliche Eingriffe auf einer „mittleren Abstraktionshöhe“[202] vervollständigen. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Maximen ihre Grundlage zumindest auch im objektiv-rechtlich geprägten Rechtsstaatsprinzip finden,[203] ist anerkannt, dass der Beschuldigte einen subjektiv-rechtlichen Anspruch auf ihre Beachtung hat;[204] sie sind vom Gesetzgeber bei der Konkretisierung des Verfassungsrechts und von den Gerichten bei der Auslegung und Anwendung bereits existierender gesetzlicher Normen zu berücksichtigen.[205] Durch die Anerkennung der Prozessmaximen schließt das BVerfG nicht zuletzt jene Lücke, die das deutsche Grundgesetz im Vergleich zur EMRK und deren Interpretation durch den EGMR im Bereich der prozeduralen Garantien aufweist.[206]
I. Recht auf ein faires Verfahren
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Das Recht auf ein faires Verfahren soll sicherstellen, dass dem Angeklagten ein „Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen“[207] zur Verfügung steht; es gewährleistet dem Betroffenen, „prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können“.[208] Aus dem Fairnessgrundsatz hat das BVerfG des Weiteren die Forderung nach der Gewährleistung einer gewissen „Waffengleichheit“ von Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigtem im Strafprozess abgeleitet,[209] diese jedoch sogleich dahingehend relativiert, dass nicht alle verfahrensspezifischen Unterschiede in der Rollenverteilung ausgeglichen werden müssten.[210] Selbst wenn man die Umsetzungschancen des Konzeptes der „Waffengleichheit“ unter den durch Macht- und Informationsasymmetrien sowie unterschiedliche Rollenzuweisungen geprägten Bedingungen des Strafprozesses eher zurückhaltend beurteilt, erscheint eine stärkere Beachtung vor allem im traditionell durch die Strafverfolgungsbehörden dominierten Ermittlungsverfahren durchaus wünschenswert.[211]
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Während das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausdrücklich normiert ist, findet es im deutschen Grundgesetz keine explizite Erwähnung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG wurzelt es im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und in Art. 2 Abs. 1 GG; darüber hinaus werden Verbindungen zu den verfahrenstypischen Bedrohungen des Rechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) sowie zur Menschenwürdegarantie aufgezeigt.[212] Am Recht auf ein faires Verfahren werden Beschränkungen Verfahrensbeteiligter gemessen, die von den speziellen Gewährleistungen nicht erfasst werden.[213] Dabei hebt das BVerfG in ständiger Rechtsprechung hervor, dass dem Fairnessgrundsatz keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote zu entnehmen sind; vielmehr sei seine Konkretisierung Aufgabe des Gesetzgebers und – in den vom Gesetz gezogenen Grenzen – auch der mit der Rechtsauslegung und -anwendung betrauten Gerichte.[214] Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nimmt das Gericht erst an, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben