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Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist beispielsweise das Recht auf eine vertrauliche Kommunikation zwischen dem Strafverteidiger und seinem Mandanten im Recht auf ein faires Verfahren verankert. Danach dürfen Mandanten nicht durch die Gefahr eines unbeschränkten Informationszugriffs der Strafverfolgungsbehörden an einer offenen, rückhaltlosen und vertrauensvollen Kommunikation mit ihren Verteidigern gehindert werden.[217] Eine Verletzung des Fairnessgrundsatzes liegt nach Ansicht des Gerichtes auch vor, wenn eine Verfahrensverbindung dazu führt, dass der Beschuldigte im Hinblick auf das Verbot der Mehrfachverteidigung den Verteidiger seines Vertrauens verliert.[218] Aus dem Recht auf ein faires Verfahren (und nicht aus dem als weniger sachnah bewerteten allgemeinen Willkürverbot) leitet das BVerfG darüber hinaus auch verfassungsrechtliche Anforderungen an die strafrichterliche Sachaufklärung und Beweiswürdigung her;[219] Gleiches gilt für das Recht des Angeklagten, durch die Stellung von Beweisanträgen aktiv an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken.[220] Eine Verständigung i.S.d. § 257c StPO ist regelmäßig nur dann mit dem Fairnessgrundsatz zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist.[221] Einem Rückgriff des Tatgerichts auf das Beweismittel des Zeugen vom „Hörensagen“ soll das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren hingegen nicht grundsätzlich entgegenstehen; es gelten jedoch besonders strenge Anforderungen an die Beweiswürdigung und an die Begründung der tatrichterlichen Entscheidung.[222] Die Billigung des BVerfG haben auch die in der Rechtsprechung des BGH entwickelten Leitlinien zum Konfrontationsrecht des Beschuldigten und zur Verwertbarkeit nicht konfrontierter Aussagen von Belastungszeugen bei der Urteilsfindung gefunden.[223]
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Noch nicht abschließend geklärt ist, wie sich das Recht auf ein faires Verfahren auf die Folgen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation auswirkt.[224] Fraglich ist vor allem, wie mit Erkenntnissen umgegangen werden soll, die im Rahmen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation[225] gewonnen wurden. Der BGH vertrat in der Vergangenheit mit Billigung des BVerfG[226] die sog. Strafzumessungslösung, nach welcher die rechtsstaatswidrige Tatprovokation lediglich bei der Rechtsfolgenbestimmung zu berücksichtigen ist.[227] In der Entscheidung zur Rechtssache Furcht gegen Deutschland aus dem Jahr 2014 konstatierte jedoch der EGMR, der schon in der Vergangenheit in vergleichbaren Fällen die Annahme eines umfassenden Beweisverwertungsverbotes favorisiert hatte,[228] dass die Vorgehensweise der deutschen Gerichte dem in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK garantierten Recht auf ein faires Verfahren nicht gerecht werde und daher konventionswidrig sei.[229] Auch das Schrifttum kritisiert seit längerem die Haltung von BGH und BVerfG.[230] Der 2. Strafsenat des BGH hat die Forderung des EGMR in einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 aufgegriffen, dabei jedoch hervorgehoben, dass ein umfassendes Beweisverwertungsverbot i.S.d. Rechtsprechung des EGMR in Widerspruch zu grundlegenden Wertungen des deutschen Strafrechtssystems – das insbesondere keine Fernwirkung anerkennt[231] – geraten würde. Stattdessen sei in Fällen rechtsstaatswidriger Tatprovokation regelmäßig ein Verfahrenshindernis anzunehmen.[232] Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Rechtsprechungswandel auch bei den anderen Senaten durchsetzen wird.
II. Prozessuale Fürsorgepflicht der Gerichte und Strafverfolgungsbehörden
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Es ist allgemein anerkannt, dass auch das Gericht in Strafsachen eine prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber den Verfahrensbeteiligten trifft, denen eine sachgerechte Wahrnehmung ihrer prozessualen Befugnisse zu ermöglichen ist.[233] Zur Begründung wird neben dem Fairnessgrundsatz[234] auch auf das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG)[235] rekurriert; dabei gilt das Verhältnis des Fürsorgegrundsatzes zum Recht auf ein faires Verfahren nach wie vor als unklar.[236] Nach Ansicht von Roxin und Schünemann bildet die prozessuale Fürsorgepflicht „das wichtigste Regulativ für eine fair gehandhabte Inquisitionsmaxime“.[237] Die Pflicht besteht nicht nur gegenüber dem Beschuldigten, sondern auch gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten wie z.B. Zeugen;[238] sie bindet neben dem Gericht auch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren.[239]
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Bedeutsame einfachgesetzliche Konkretisierungen der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichtes finden sich in den Hinweispflichten (§ 265 Abs. 1 und 2 StPO) sowie in der Pflicht, den Verfahrensbeteiligten eine angemessene Vorbereitung auf eine veränderte Sachlage zu gewähren (§§ 145 Abs. 3, 265 Abs. 3 und 4 StPO).[240] Im Privatklageverfahren hat das Gericht die Objektivität der Verhandlungsführung zu gewährleisten; es hat Benachteiligungen des Privatbeklagten entgegenzuwirken[241] und muss gerade dann in besonderem Maße auf Ausgleich bedacht sein, wenn nur auf einer Seite ein Rechtsbeistand auftritt.[242] Aus der prozessualen Fürsorgepflicht ergibt sich des Weiteren eine Pflicht der Gerichte, im Falle offensichtlicher eigener Unzuständigkeit den fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Hingegen besteht keine generelle Verpflichtung zur sofortigen Prüfung der Zuständigkeit für eine Rechtsmittelschrift bei deren Eingang.[243] Keine Grundlage bildet die prozessuale Fürsorgepflicht für aufgedrängte Fürsorge: So können etwa Eingriffe in das Verteidigungsverhältnis nicht mit dem Fürsorgegedanken gerechtfertigt werden.[244]
III. Schuldgrundsatz
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Das deutsche Strafrecht wird auch als „Schuldstrafrecht“ bezeichnet, da es maßgeblich durch den Schuldgrundsatz (nulla poena sine culpa) geprägt wird.[245] Die Schuld bildet neben der Tatbestandsmäßigkeit und der Rechtswidrigkeit die dritte Wertungsstufe für strafrechtlich relevantes Verhalten; ihr kommt jedoch nicht nur strafbegründende, sondern auch straflimitierende Funktion – im Sinne einer Begrenzung des Umfangs der Bestrafung – zu.[246] Nach der Rechtsprechung des BVerfG setzt der Schuldgrundsatz „die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann“. Danach liegt dem in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Menschenwürdeschutz „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten“.[247] In der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird dem Schuldgrundsatz mithin Verfassungsrang zuerkannt; seine Wurzeln werden in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip gesehen.[248] Aufgrund seiner partiellen Fundierung in Art. 1 Abs. 1 GG gehört der Schuldgrundsatz schließlich auch zu der durch Art. 79 Abs. 3 GG für unverfügbar erklärten Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.[249] Der Schuldgrundsatz ist daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verurteilten ergangenen Strafurteils zu wahren.[250]
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Während die primäre Bedeutung des Schuldgrundsatzes im Bereich des materiellen Rechts liegt, entnimmt das BVerfG ihm auch Anforderungen an die Ermittlung des Sachverhalts.[251] Mit Blick auf die Ausgestaltung verfahrensbeendender Absprachen schließt es das Schuldprinzip etwa aus, die Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion oder die Strafzumessung zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts zu stellen. Staatsanwaltschaft und Gericht dürfen sich nicht auf einen „Vergleich“ im Gewande des Urteils, auf einen „Handel mit der Gerechtigkeit“ einlassen.[252] Bedauerlicherweise hat das Gericht die durch den von ihm beauftragten Sachverständigen Altenhain aufgezeigten Defizite in der Anwendungspraxis des § 257c StPO[253] nicht zum Anlass genommen, den Gesetzgeber zu einer grundlegenden Reform der rechtlichen Rahmenbedingungen konsensbedingt abgekürzter Verfahren aufzufordern.[254]
IV. Unschuldsvermutung
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Die Unschuldsvermutung findet im Grundgesetz[255] keine grundsätzliche