V. Zweifelssatz (in dubio pro reo)
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Das BVerfG hat bislang offengelassen, ob dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ („in dubio pro reo“) Verfassungsrang zukommt.[298] Da jedoch erstens materielles Schuldprinzip und Unschuldsvermutung „in dem Punkt, in dem die Schuld zur Überzeugung des Gerichts nicht feststeht, [. . .] zusammen(treffen) und [. . .] zum Freispruch (führen)“,[299] und da den beiden in Rede stehenden Prinzipien zweitens – wie vorstehend bereits dargelegt – Verfassungsrang zukommt, ist diese Wertung zwangsläufig auch auf den strafprozessualen Zweifelssatz zu übertragen.[300] Der Grundsatz besagt, dass ein Angeklagter bei richterlichen Zweifeln im tatsächlichen Bereich,[301] die trotz Ausschöpfung aller Beweismittel nicht behoben werden können, nicht verurteilt werden darf. Es handelt sich nicht um eine Beweis-, sondern um eine Entscheidungsregel,[302] die grundsätzlich nicht auf die einzelnen Elemente der richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) anzuwenden ist, sondern erst nach deren Abschluss eingreift.[303] Eine isolierte Anwendung auf einzelne Indizien kommt daher nicht in Betracht; der Zweifelssatz kommt vielmehr erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung des Beweisstoffs zum Tragen.[304] Eine Verletzung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ ist im Übrigen, wie das BVerfG in ständiger Rechtsprechung betont, nicht schon dann gegeben, wenn der Richter hätte zweifeln müssen, sondern erst dann, wenn er trotz bestehender Zweifel verurteilt hat.[305] Bei Fehlern im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung und der Beweiswürdigung greift das BVerfG erst ein, wenn „sich das Tat- und gegebenenfalls das Revisionsgericht so weit von der Verpflichtung entfernt haben, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jeder als Täter in Betracht kommenden Person auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann“.[306]
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Umstritten ist, ob der Grundsatz „in dubio pro reo“ auch auf Prozessvoraussetzungen anwendbar ist. Die höchstrichterliche Rechtsprechung entscheidet zumindest formal von Fall zu Fall; sie stellt dabei auf den Sinn und Zweck der jeweiligen Prozessvoraussetzung ab und hat eine Anwendbarkeit des Zweifelssatzes etwa für die Verfolgungsverjährung[307] sowie für den Strafklageverbrauch[308] bejaht. Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten haben ebenfalls zur Folge, dass die Hauptverhandlung nicht gegen ihn durchgeführt werden darf, soweit kein Ausnahmefall i.S.d. §§ 231 Abs. 2, 231a StPO vorliegt; eine auf die Verletzung des § 230 Abs. 1 StPO gestützte Verfahrensrüge hat jedoch nur dann Erfolg, wenn der Verstoß zur Überzeugung des Revisionsgerichts nachgewiesen ist.[309] Eine verbreitete Auffassung im Schrifttum spricht sich demgegenüber zu Recht für eine unterschiedslose (entsprechende) Anwendung des Zweifelssatzes (im Sinne eines „in dubio contra processum“) auf sämtliche Prozessvoraussetzungen aus, da deren Vorliegen ebenso wie das der materiell-rechtlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen eine notwendige Bedingung für eine Bestrafung des Angeklagten darstellt.[310] Bedenken begegnet auch die grundsätzliche Nichtanwendung des Zweifelssatzes auf Verfahrensfehler begründende Tatsachen durch die herrschende Meinung,[311] die allerdings die Billigung des BVerfG gefunden hat. Etwas anderes soll lediglich gelten, wenn die Aufklärungsschwierigkeiten und die dadurch bedingten Zweifel des Gerichts auf einen Verstoß gegen eine gesetzlich angeordnete Dokumentationspflicht zurückgehen.[312]
VI. Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare)
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Der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ besagt, dass niemand gezwungen werden darf, sich wegen der Begehung einer Straftat (oder Ordnungswidrigkeit) selbst zu belasten oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen.[313] Nach herrschender Auffassung bezieht sich der durch den Grundsatz vermittelte Schutz auf jede Form der Selbstbelastung, die Anlass zur Verfolgung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit geben kann.[314] Der Grundsatz, der in der Strafprozessordnung keine ausdrückliche Normierung erfahren hat und lediglich implizit in den Belehrungspflichten gemäß §§ 136 Abs. 1 S. 2, 243 Abs. 5 S. 1 StPO[315] aufscheint, wird in der Rechtsprechung des BVerfG aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) dem Fairnessgrundsatz und der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) hergeleitet;[316] der EGMR bezeichnet das Schweigerecht und das Recht, sich nicht selbst zu beschuldigen, als „Kernstück des in Art. 6 EMRK garantierten fairen Verfahrens“.[317] Insbesondere die mit dem Gemeinschuldnerbeschluss des BVerfG aus dem Jahr 1981[318] verbundene „würderechtliche Aufladung“ des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit hat im Schrifttum ein durchaus geteiltes Echo gefunden.[319]
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Eine Herausforderung für den nemo tenetur-Grundsatz stellen zunächst (häufig ihrerseits sanktionsbewehrte) außerstrafrechtliche Auskunftspflichten dar, deren Befolgung für den Auskunftspflichtigen die Gefahr einer Selbstbelastung mit straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlich relevanten Sachverhalten mit sich bringen kann. Entsprechende Pflichten finden sich etwa im Insolvenzrecht (§ 97 Abs. 1 S. 1 InsO), im Umweltrecht (§ 52 Abs. 2 S. 1 BImSchG, § 47 Abs. 3 KrWG, § 101 Abs. 2 WHG, § 21 Abs. 4 S. 3 ChemG),[320] im Steuerrecht (§§ 90, 200 AO)[321] und neuerdings auch im Recht des Behandlungsvertrages (§ 630c Abs. 2 S. 2 BGB). Durch die in Rede stehenden Auskunftspflichten kann die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen, durch eine Falschaussage ein neues Delikt zu begehen oder aufgrund ihres Schweigens Zwangsmitteln oder sonstigen Nachteilen ausgesetzt zu werden.[322] Dieses Dilemma hat der Erste Senat des BVerfG für das Verhältnis von Konkurs- (heute: Insolvenz-) und Strafverfahren in dem bereits (vgl. Rn. 56) erwähnten Gemeinschuldnerbeschluss dahingehend aufgelöst, dass der Schuldner zwar zur uneingeschränkten Auskunft über seine Vermögensverhältnisse verpflichtet bleibt, die Verwertung auf diesem Wege erzwungener selbstbelastender Aussagen in einem gegen den Schuldner geführten Strafverfahren jedoch durch ein prozessuales Verwertungsverbot ausgeschlossen sein muss.[323] Der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ steht mithin nach Ansicht des Senats nicht zwingend der Implementierung von (der Wahrung konkurrierender Belange Dritter oder der Allgemeinheit dienenden) Auskunftspflichten entgegen, deren Befolgung mit der Gefahr der Selbstbelastung verbunden ist, wohl aber der strafprozessualen Verwertung der auf diesem Wege gewonnenen Erkenntnisse gegen den Auskunftspflichtigen. § 97 Abs. 1 S. 3 InsO sieht nunmehr ausdrücklich vor, dass „eine Auskunft, die der Schuldner gemäß seiner Verpflichtung nach Satz 1 erteilt, in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten