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Nach einer in der Rechtsprechung des BVerfG gebräuchlichen Formulierung schützt die Unschuldsvermutung den Beschuldigten vor Nachteilen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung vorausgegangen ist.[267] Darüber hinaus weist das Gericht darauf hin, dass die Unschuldsvermutung den rechtskräftigen Nachweis der Schuld verlangt, bevor dem Verurteilten diese im Rechtsverkehr wirksam entgegen gehalten werden darf.[268] Jenseits dieser eher allgemein gehaltenen Aussagen ist die inhaltliche Bedeutung der Unschuldsvermutung für das Strafverfahren allerdings nach wie vor umstritten.[269] Überzeugend ist es, ihr eine „normative Grenze der Belastbarkeit des Beschuldigten“[270] zu entnehmen, deren Verlauf deutlich wird, wenn man sich vor Augen führt, dass die verfahrensbezogenen Eingriffe auch gegenüber dem später rechtskräftig Freigesprochenen zu legitimieren sein müssen. Sie dürfen „nur soweit gehen und müssen so ausgestaltet sein, dass man sie gegenüber einem Verdächtigen, der in Wahrheit unschuldig ist, noch verantworten kann.“[271]
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Konsequenzen ergeben sich aus einer so verstandenen Unschuldsvermutung beispielsweise für die Öffentlichkeitsarbeit der Strafverfolgungsbehörden,[272] die vor allem in Verfahren mit politischem Hintergrund sowie in Korruptions- und Wirtschaftsstrafverfahren zunehmend offensiv und proaktiv verläuft und nicht selten zu einer frühzeitigen Bloßstellung und Vorverurteilung des Beschuldigten in der Öffentlichkeit führt.[273] Bei der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden und Presseorganen ist die dreipolige Struktur der durch entsprechende Kontakte tangierten Rechtsbeziehungen zu berücksichtigen: Während das Verhältnis zwischen den Strafverfolgungsbehörden und dem Beschuldigten insofern klassisch-abwehrrechtlich geprägt ist, als die Herausgabe von Informationen hier an der Unschuldsvermutung und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) zu messen ist,[274] gelangt im Verhältnis zwischen den Strafverfolgungsbehörden und den Medien die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) in ihrer Leistungsdimension zur Anwendung.[275] Führt man sich vor Augen, dass viele Strafverfahren heute bereits vor Erreichen der Hauptverhandlung im Wege der §§ 153a, 407 ff. StPO erledigt werden, und dass auch in den übrigen Verfahren die im Ermittlungsverfahren gewonnenen Erkenntnisse häufig verfahrensdeterminierende Wirkung entfalten,[276] so liegt es nahe, das Wächteramt der Medien ausdrücklich auch auf diesen Verfahrensabschnitt und nicht erst auf das Geschehen in der öffentlichen Hauptverhandlung[277] zu beziehen; dies bringt es jedoch mit sich, dass die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich auch schon im Ermittlungsverfahren befugt sein müssen, Informationen zum Verfahrensstand an Vertreter der Medien herauszugeben.[278] Aus der angesprochenen Dreipoligkeit der Rechtsbeziehungen resultiert jedoch eine Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zu möglichst grundrechtsschonendem Vorgehen: Sobald relevante Informationen in die Hände der Medien und damit in die Öffentlichkeit gelangen, besteht die Gefahr der Entwicklung einer Eigendynamik, die dazu führen kann, dass sich der Beschuldigte irreversibel und unabhängig von einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens mit einem Schuldvorwurf in der Öffentlichkeit konfrontiert sieht.[279] Die Strafverfolgungsbehörden haben daher nicht nur eine einseitige Überbetonung von Verdachtsmomenten und den Gebrauch von Formulierungen zu vermeiden, die eine Schuld des nicht rechtskräftig Verurteilten auch nur nahelegen,[280] sondern auch besondere Zurückhaltung bei der Offenlegung der Identität des Beschuldigten zu üben.[281] Der Subjektstatus des Beschuldigten gebietet darüber hinaus, diesem durch eine frühzeitige Information über eine bevorstehende (identifizierende) Presseerklärung die Gelegenheit einzuräumen, zu den von den Strafverfolgungsbehörden geplanten Ausführungen Stellung zu nehmen.[282] Medienkontakte ziehen schließlich eine Folgeverantwortung der Strafverfolgungsbehörden nach sich, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Behörden unzutreffender oder vorverurteilender Berichterstattung, die unter Bezugnahme auf das im Gespräch Mitgeteilte erfolgt, öffentlich entgegenzutreten haben.[283]
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Besondere Bedeutung kommt der Unschuldsvermutung naturgemäß auch für die Untersuchungshaft zu, bei der es sich um die wohl einschneidendste unter den verfahrenssichernden Maßnahmen handelt.[284] Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft, die durch die Freiheitsrechte des Betroffenen, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Unschuldsvermutung geprägt werden,[285] sind Gegenstand eines eigenen Abschnittes im Kapitel über die Prozessgrundrechte (vgl. → StPO Bd. 7: Lindemann, § 3 Rn. 67 f.). An dieser Stelle soll daher ausschließlich auf Implikationen der Unschuldsvermutung für die Ausgestaltung des (einfachgesetzlichen) Rechts der Untersuchungshaft eingegangen werden.[286] Im strafprozessualen Schrifttum ist die Unschuldsvermutung vor allem gegen die in den §§ 112 f. StPO normierten Haftgründe ins Feld geführt worden. So ist beispielsweise die mangelnde Bestimmtheit des Haftgrundes der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) kritisiert worden, die einen Missbrauch zur Kaschierung sog. „apokrypher Haftgründe“– wie etwa der Hoffnung auf die Erlangung eines Geständnisses des Beschuldigten unter dem Eindruck der Haftbedingungen[287] – ermögliche.[288] Die Forderung nach einer Abschaffung des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) hat Frister damit begründet, dass dieser die Anordnung der Untersuchungshaft ausschließlich gegenüber dem Beschuldigten, nicht jedoch gegenüber nichtverdächtigen Dritten ermöglicht, die der Vornahme von Verdunkelungshandlungen verdächtig sind. Diese Differenzierung sei mit dem aus der Unschuldsvermutung folgenden Benachteiligungsverbot nicht vereinbar.[289] Kritik hat schließlich auch der Haftgrund der Wiederholungsgefahr auf sich gezogen, der aufgrund seiner ausschließlich präventiv-polizeilichen Zielsetzung einen Fremdkörper im Recht der Untersuchungshaft bildet und sowohl in seinem retrospektiven als auch in seinem prognostischen Element letztlich an einen unbewiesenen Verdacht anknüpft.[290] Das BVerfG hat jedoch die Vorschrift des § 112a StPO trotz dieser Bedenken für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.[291]
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