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Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit verbietet lediglich die Erzwingung einer aktiven Mitwirkung des Beschuldigten an seiner Überführung, nicht hingegen die Erzwingung einer passiven Duldung von Eingriffen zur Sachverhaltsaufklärung.[333] Dabei kann die Abgrenzung zwischen aktiver Mitwirkung und passiver Duldung bisweilen Probleme bereiten, wie eine Entscheidung des KG zeigt, in der das Gericht die Anbringung von Knebelketten am Handgelenk der Beschuldigten zur Erzwingung eines „normalen Gesichtsausdruckes“ während einer Gegenüberstellung gebilligt hat.[334] Richtigerweise ist hingegen mit Grünwald immer dann, wenn das Verhalten nur durch Einwirkung auf die Entschließungsfreiheit des Beschuldigten – sei es durch Drohungen oder durch die Anwendung von vis compulsiva – erzwungen werden kann, von einem Verstoß gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit auszugehen.[335]
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Der EGMR hat den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit schließlich in jüngerer Zeit auch auf Fälle zur Anwendung gebracht, in denen Beschuldigte durch verdeckt mit den Strafverfolgungsbehörden kooperierende Personen heimlich ausgeforscht und im Rahmen vermeintlich vertraulicher, tatsächlich jedoch vernehmungsähnlicher Befragungen zu selbstbelastenden Äußerungen veranlasst wurden.[336] Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) vor, wenn die Behörden in einem Fall, in dem der Beschuldigte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat, eine Täuschung anwenden, um dem Beschuldigten Geständnisse oder andere belastende Äußerungen zu entlocken, die sie in der Vernehmung nicht erlangen konnten und die so erlangten Informationen als Beweise in den Prozess einführen.[337] Die Konturen dieser Rechtsprechung, die im Schrifttum neben verbreiteter Zustimmung[338] auch Ablehnung[339] erfahren hat, sind allerdings recht unscharf;[340] so hat der EGMR in einer neueren Entscheidung die Verneinung eines Fairnessverstoßes maßgeblich damit begründet, dass der Beschuldigte sich – anders als die Beschwerdeführer in früher entschiedenen Fällen – zum Zeitpunkt der verdeckten Ausforschung nicht in Untersuchungshaft befunden hatte, und dass es ihm frei gestanden habe, mit dem Polizeiinformanten zu sprechen oder das nicht zu tun.[341] Der 1. Strafsenat des BGH hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2018, welche das Mithören eines Arzt-Patienten-Gesprächs durch die Ermittlungsbehörden zum Gegenstand hatte, betont, dass die Verletzung der Aussagefreiheit auch außerhalb von Vernehmungen nach §§ 136, 136a StPO zu einem Beweisverwertungsverbot führen kann.[342]
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Da eine Entwertung des Schweigerechtes drohen würde, wenn der Beschuldigte befürchten müsste, dass sein Schweigen im Rahmen der Beweiswürdigung gegen ihn verwendet werden könnte, ist dies nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Beschuldigte die Einlassung zur Sache vollständig verweigert hat.[343] Gleiches gilt, wenn der Beschuldigte zunächst schweigt und entlastende Momente erst in einem späteren Verfahrensstadium vorträgt.[344] Lässt sich der Beschuldigte hingegen teilweise zur Sache ein, so macht er sich selbst zum Beweismittel; sein Teilschweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der richterlichen Beweiswürdigung unterliegt.[345]
VII. Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit
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Nach der Rechtsprechung des BVerfG bildet die Ermittlung des wahren Sachverhalts, zu der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte gem. §§ 160 Abs. 1, 244 Abs. 2, 261 StPO verpflichtet sind, das zentrale Anliegen des Strafprozesses und die Grundvoraussetzung für die Verwirklichung des verfassungsrechtlich verbürgten Schuldprinzips.[346] Geradezu sprichwörtlich ist jedoch auch die korrespondierende Feststellung, „dass die Wahrheit nicht um jeden Preis, sondern nur auf ‚justizförmige‘ Weise, d.h. in einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren erforscht werden darf“.[347] Die Wahrheitserforschungspflicht wird daher durch klassische strafprozessuale Gewährleistungen wie beispielsweise die Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte gem. §§ 52 ff. StPO, das Schweigerecht des Beschuldigten i.S.d. §§ 136 Abs. 1 S. 2, 243 Abs. 5 S. 1 StPO oder das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden in § 136a StPO begrenzt; hinzu treten die Grundrechte des Beschuldigten und dritter Personen[348] als Schranken für Maßnahmen der Sachverhaltsaufklärung.[349]
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Kritikwürdig erscheint der Selbstbetrug des Gesetzgebers, der in § 257c Abs. 1 S. 2 StPO mit Blick auf Verständigungen im Strafverfahren geradezu kontrafaktisch konstatiert, § 244 Abs. 2 StPO bleibe „unberührt“. Nicht zuletzt dem im Auftrag des BVerfG von Altenhain erstatteten Gutachten lassen sich genügend Belege für die mangelnde Bereitschaft vieler Gerichte zu einer angemessenen Überprüfung verständigungsbasierter (sog. „schlanker“) Geständnisse entnehmen.[350] Die von Altenhain erhobenen Rechtstatsachen lassen den Schluss zu, dass es um die Verwirklichung des Amtsaufklärungsgrundsatzes in Verfahren, die durch eine Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten beendet werden, schlecht bestellt ist. Entgegen einer teilweise im Schrifttum vertretenen Ansicht[351] erscheint im Übrigen auch eine konsenstheoretische Deutung des § 244 Abs. 2 StPO nicht geeignet, die mit der Verständigungspraxis verbundene Erosion der legitimatorischen Grundlagen staatlichen Strafens aufzuhalten.[352] Ungeachtet der Billigung, welche die durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren[353] eingeführten Vorschriften durch das BVerfG erfahren haben,[354] sollte daher weiterhin über legislative Maßnahmen zur Domestizierung der Absprachepraxis nachgedacht werden.[355]
VIII. Beschleunigungsgebot
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Das Beschleunigungsgebot findet zwar in der Strafprozessordnung keine ausdrückliche Erwähnung, liegt jedoch der Sache nach einer Reihe von Vorschriften zugrunde, die auf eine sachangemessen zügige Durchführung des Verfahrens dringen (vgl. §§ 115, 121, 122, 128 f., 163 Abs. 2 S. 1 StPO).[356] Darüber hinaus ist das Beschleunigungsgebot in Art. 5 Abs. 3 S. 1, 6 Abs. 1 EMRK verankert;[357] das BVerfG leitet es aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), dem Fairness- und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie aus der prozessualen Fürsorgepflicht der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte her.[358] Besondere Bedeutung erlangt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen; hierzu existiert eine detaillierte Rechtsprechung des BVerfG,[359] auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird (vgl. → StPO Bd. 7: Lindemann, § 3 Rn. 68).[360] Kommt es zu einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, so ist diesem Umstand nach der neueren Rechtsprechung dadurch Rechnung zu tragen, dass zur Entschädigung in der Urteilsformel ein bezifferter Teil der verhängten Strafe für vollstreckt erklärt wird.[361] Das BVerfG hat diese sog. Vollstreckungslösung, die im Schrifttum auf ein geteiltes Echo gestoßen ist,[362] unbeanstandet gelassen.[363] Gem. § 199 Abs. 3 S. 1 GVG gilt die Berücksichtigung einer unangemessenen Verfahrensdauer zugunsten des Beschuldigten als ausreichende Wiedergutmachung i.S.d. § 198 Abs. 2 S. 2 GVG.[364]
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Bedenken begegnet, dass das Beschleunigungsgebot von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zuletzt vermehrt als Argument zur Begründung von Einschränkungen