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Umstritten ist auch die Zulässigkeit der Entnahme von Gehirn- oder Rückenmarksflüssigkeit (sog. Liquorentnahme) zur Feststellung von Erkrankungen des Zentralnervensystems. Der Eingriff gilt zwar bei einer Durchführung nach den Regeln der ärztlichen Kunst als ungefährlich,[72] zieht jedoch regelmäßig „Befindlichkeitsstörungen wie Übelkeit, Kopfschmerzen und andere Störungen des Allgemeinbefindens von kürzerer oder längerer Dauer“[73] nach sich. Die h.M. verlangt daher zu Recht das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts wegen einer schweren Straftat.[74] Gleiches soll für die zur Ermöglichung einer Röntgenaufnahme des Gehirns durchgeführte sog. Hirnkammerluftfüllung (Pneumoenzephalographie) gelten,[75] die allerdings heute durch die Möglichkeiten der Computertomographie obsolet geworden ist.
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Die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln an Drogenhändler zum Zwecke der Exkorporation von Beweismitteln, in der teilweise sogar ein Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) gesehen worden ist,[76] ist nach inzwischen herrschender Auffassung wegen der mit ihr verbundenen erheblichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen[77] und des massiven Eingriffs in die Intimsphäre der Betroffenen regelmäßig als unverhältnismäßiger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit anzusehen.[78] Soweit schließlich der BerlVerfGH im Fall Honecker geurteilt hat, „daß es mit dem Gebot der Achtung der Würde des Menschen unvereinbar ist, einen Menschen, der von schwerer und unheilbarer Krankheit und von Todesnähe gekennzeichnet ist, weiter in Haft zu halten“,[79] dürfte das Recht auf körperliche Unversehrtheit ebenfalls einen passenderen Prüfungsmaßstab abgeben.[80] Gleiches gilt für die Frage, ob eine Hauptverhandlung wegen drohender schwerwiegender Schäden für die Gesundheit des Angeklagten abzubrechen ist.[81]
b) Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG)
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In die durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG garantierte Freiheit der Person wird im Strafverfahren vor allem durch die Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) eingegriffen. Insofern finden sich in Art. 104 GG formale Rechtsgarantien, die den materiell-rechtlichen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bei Freiheitsentziehungen der hier in Rede stehenden Art um Elemente der Grundrechtssicherung durch Verfahren ergänzen.[82] Die aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG abzuleitenden Anforderungen an die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft werden daher im folgenden, den Prozessgrundrechten gewidmeten Kapitel besprochen (vgl. → StPO Bd. 7: Lindemann, § 3 Rn. 54 ff.).
c) Religionsfreiheit (Art. 4 GG)
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Ausdruck der verfassungsrechtlich verbürgten Religionsfreiheit (Art. 4 GG) ist zunächst das in § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO normierte Zeugnisverweigerungsrecht der Geistlichen, das sich auf alles erstreckt, was diesen „in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden oder bekanntgeworden ist“. Das BVerfG betont, dass der Schutz der Beichte oder der Gespräche mit Beichtcharakter zum verfassungsrechtlichen Menschenwürdegehalt der Religionsausübung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gehört.[83] In einer Kammerentscheidung hat das Gericht – das seit jeher den Ausnahmecharakter strafprozessualer Zeugnisverweigerungsrechte hervorhebt[84] – es für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt, dass die Fachgerichte einen Gefängnisseelsorger, der zwar keine Priesterweihe erhalten, seine Tätigkeit jedoch aufgrund einer hauptamtlichen Beauftragung durch die Kirche nach den durch das kirchliche Dienstrecht vorgesehenen Voraussetzungen ausgeübt hatte, als Geistlichen i.S.d. § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO angesehen hatten.[85] Die Kammer billigte allerdings auch die von den Fachgerichten vorgenommene Unterscheidung zwischen seelsorgerischen und nichtseelsorgerischen Gesprächen, die im konkreten Fall dazu führte, dass die Anwendbarkeit des § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO auf den Austausch über das Recherchieren von Versicherungsadressen zu verneinen war.[86] Eine weitere Entscheidung des BVerfG betraf die Hinnahme gegen die Ableistung des Zeugeneides gerichteter Glaubensentscheidungen.[87]
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Bedeutung kann der Religionsfreiheit darüber hinaus beispielsweise im Vollzug von Untersuchungshaft zukommen, wenn sich Untersuchungsgefangene auf Speisevorschriften ihrer Religionsgemeinschaft berufen. Die Untersuchungshaftvollzugsgesetze der meisten Länder sehen vor, dass die Anstalten den Gefangenen die Befolgung solcher Vorschriften zu ermöglichen haben (vgl. etwa § 12 S. 4 UVollzG NRW: „ist zu ermöglichen“); zur Bereithaltung eines entsprechenden Speiseangebotes sind sie hingegen nach h.M. nicht verpflichtet.[88] Bloße Soll-Vorschriften, wie sie § 11 Abs. 1 S. 2 JVollzGB II BW und § 18 Abs. 1 S. 3 SächsUHaftVollzG enthalten, erscheinen aus verfassungsrechtlicher Perspektive bedenklich. Gleiches gilt für den sich an eine rechtskräftige Verurteilung anschließenden Vollzug der Freiheitsstrafe.[89]
d) Presse- und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG)
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Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet neben der Meinungs- und Informationsfreiheit (Satz 1) auch die Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit (Satz 2). Während Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG vor allem im Zusammenhang mit dem Austausch von Meinungen und Informationen im Vollzug von Untersuchungs- und Strafhaft Bedeutung zukommt,[90] sind die Gewährleistungsbereiche der Presse- und Rundfunkfreiheit auch für strafprozessuale Ermittlungshandlungen von Relevanz (vgl. einfachrechtlich §§ 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, S. 2 und 3, 97 Abs. 5, 160a Abs. 2 StPO). So hat das BVerfG in seiner CICERO-Entscheidung aus dem Jahr 2007 auf die besondere Schutzbedürftigkeit des Vertrauensverhältnisses zwischen Presse bzw. Rundfunk und deren Informanten hingewiesen: „Dieser Schutz ist unentbehrlich, weil die Presse auf private Mitteilungen nicht verzichten kann, diese Informationsquelle aber nur dann ergiebig fließt, wenn sich der Informant grundsätzlich auf die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses verlassen kann.“[91] Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige seien daher verfassungsrechtlich unzulässig, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienten, die Person des Informanten zu ermitteln. Auch wenn die betreffenden Angehörigen von Presse oder Rundfunk nicht Zeugen, sondern selbst Beschuldigte seien und der einfachrechtlich in § 97 Abs. 5 S. 1 StPO normierte Beschlagnahmeschutz deshalb nicht bestehe (vgl. § 97 Abs. 5 S. 2 i.V.m. Abs. 2 S. 3 StPO), dürften in gegen sie gerichteten Ermittlungsverfahren wegen einer Beihilfe zum Dienstgeheimnisverrat (§§ 353b, 27 StGB) Durchsuchungen nach § 102 StPO sowie Beschlagnahmen nach § 94 StPO zwar zur Aufklärung der ihnen zur Last gelegten Straftat angeordnet werden, nicht jedoch zu dem vorrangigen oder ausschließlichen Zweck, Verdachtsgründe insbesondere gegen den Informanten zu finden.[92]
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Intensiv diskutiert wurde zuletzt die Frage, ob das in § 169 S. 2 GVG a.F. normierte generelle Verbot von Rundfunk- und Filmaufnahmen im Gerichtssaal noch zeitgemäß war.[93] Das BVerfG hat die Vorschrift in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 für verfassungsgemäß erklärt und zur Begründung auf Gefahren abgestellt, die für den Persönlichkeitsschutz, die Verfahrensfairness und die Wahrheits- und Rechtsfindung aus einer Zulassung von Rundfunk- und Filmaufnahmen im Rahmen der strafprozessualen Hauptverhandlung erwachsen können: So drohe dem Angeklagten durch die Übertragung eine zusätzliche Pranger- und Vorverurteilungswirkung, die Wahrnehmung von Verteidigungsrechten könne erschwert werden, und es sei denkbar, dass sich auch Zeugen und