270
Für das Beschwerdeverfahren vor dem Landgericht gilt: Ist der Amtsrichter trotz eines gegenläufigen Sachverständigengutachtens aufgrund des persönlichen Eindrucks des Betroffenen zu der Überzeugung gelangt, dass dieser einen freien Willen i.S.d. § 1896 Abs. 1a BGB bilden könne, und hat er deshalb die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt, darf das Beschwerdegericht die Betreuung grundsätzlich nicht ohne Anhörung des Betroffenen anordnen.[13]
271
Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Allerdings kann das Beschwerdegericht von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.[14] Wurde der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen zum Anhörungstermin vor dem Amtsgericht weder geladen noch hiervon benachrichtigt, leidet die Anhörung an einem Verfahrensfehler, der eine erneute Anhörung – ggf. durch das Beschwerdegericht – erforderlich macht.[15]
272
Sieht das Beschwerdegericht von einer persönlichen Anhörung ab, muss es die Gründe dafür in der Beschwerdeentscheidung nachvollziehbar darlegen. Von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren sind in der Regel neue Erkenntnisse zu erwarten, wenn der Betroffene an seinem in der amtsgerichtlichen Anhörung erklärten Einverständnis mit einer Betreuung im Beschwerdeverfahren nicht mehr festhält oder wenn er im Beschwerdeverfahren erstmals den Wunsch äußert, ihm einen bestimmten Betreuer zu bestellen.[16]
Anmerkungen
BayObLG BtPrax 2002, 129.
BGH FGPrax 2013, 213 = NJW 2013, 3372.
BT-Drs. 11/4528, 172.
BGH Beschl. v. 26.11.2014, XII ZB 405/14, BtPrax 2015, 71.
BayObLG BtPrax 2003, 183.
BGH FamRZ 2012, 619 = FGPrax 2012, 131 = MDR 2012, 466 = NJW 2012, 1582.
BayObLG FamRZ 1986, 1043: Unverwertbarkeit eines Gutachtens nach § 1846 BGB, wenn ein Betroffener vorab keine Gelegenheit zur Stellungnahme erhielt; BayObLG BtPrax 1993, 208; OLG München BtPrax 2005, 231.
OLG München BtPrax 2006, 35.
BT-Drs., 11/4528, 90.
BGH MDR 2011, 1040 = RdLH 2011, 142.
Zimmermann Richter- und Rechtspflegerhaftung im BtR, BtPrax 2008, 185.
BGH NJW 2011, 1289
BGH MDR 2011, 1039 = FamRZ 2011, 1577 = BtPrax 2011, 208.
BGH NJW-RR 2012, 833 = FGPrax 2012, 163.
BGH FamRZ 2012, 104 = BtPrax 2012, 25 = FGPrax 2012, 17.
BGH FGPrax 2011, 120 = NJW-RR 2011, 723 = BtPrax 2011, 124.
B. Das gerichtliche Verfahren bis zur Bestellung eines Betreuers › IX. Die Anhörung des Betroffenen › 1. Widerspruch des Betroffenen
1. Widerspruch des Betroffenen
273
Das Gericht ist gehalten, die Anhörung in der vertrauten Umgebung des Betroffenen durchzuführen, es sei denn, dass dieser dem widerspricht, § 278 Abs. 1 S. 3 FamFG. Die diesbezügliche Möglichkeit des Betroffenen dient der Wahrung seiner Intimsphäre.[1] Der Betroffene ist nicht verpflichtet, seinen Widerspruch zu begründen. Es ist nicht erforderlich, dass der Betroffene explizit das Wort „Widerspruch“ benutzt.
274
Beispiel
Marlene T. wird zur Verfahrenspflegerin für Agnes G. eingesetzt. Zwecks Erörterung der Angelegenheit begibt sich Frau T. nach vorheriger schriftlicher Ankündigung zur Wohnungstür von Agnes G. und bittet um Einlass. Die Betroffene fängt daraufhin hinter der Tür stehend zu schreien an. Kreischend bedeutet sie der Verfahrenspflegerin, sie werde keinem die Wohnungstür öffnen.
275
In einem solchem Fall ist sowohl einem Verfahrenspfleger als auch dem Gericht eine Sachaufklärung in der üblichen Umgebung des Betroffenen nicht möglich. Das Gericht muss versuchen, ohne diese Erkenntnisquelle auszukommen. So ist es in dem Beispielsfall nicht möglich herauszufinden, in welchem Pflegezustand sich die Wohnung befindet und ob die Erforderlichkeit zur Anordnung des Aufgabenkreises „Wohnungsangelegenheiten“ besteht. Der Betroffene hat es auf die vorskizzierte Art und Weise in der Hand zu vereiteln, dass ein Betreuungsbedarf festgestellt wird. Die Erhebung des Widerspruchs seitens des Betroffenen ist an keine Frist gebunden.
276
Beispiel
Der Betroffene Georg G. lässt die Amtsrichterin Ines W. in seine Wohnung, die erheblich vermüllt ist. Als die Amtsrichterin Ines W. stirnrunzelnd den Zustand der Wohnung beobachtet, besteht Georg G. darauf, dass sie die Wohnung verlässt. Herr G. ist Hausrechtsinhaber, und die Amtsrichterin ist deshalb verpflichtet, seiner Aufforderung Folge zu leisten.
277
Die Entscheidung, eine Milieuanhörung durchzuführen, steht zwar im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Widerspricht der Betroffene nicht einer Anhörung in seinen Räumlichkeiten und nimmt das Gericht im Rahmen seiner Ermessensausübung hiervon Abstand, sind die Gründe hierfür in den Entscheidungsgründen darzulegen.[2] Andernfalls ist ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz zu thematisieren. Der Regelfall ist jedoch die Milieuanhörung. Hierfür steht der Gesetzeswortlaut, der postuliert, das Gericht