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Unter den allgemeinen Regeln des Völkerrechts werden das Völkergewohnheitsrecht sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze verstanden.[144] Unmittelbar Rechte und Pflichten erzeugen sie naturgemäß nur dann, wenn sie ihrem Inhalt nach unmittelbar anwendbar (self-executing) sind. Aus der Formulierung, dass sie „den Gesetzen“ vorgehen, wird geschlossen, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts innerhalb der Normenhierarchie zwischen den Parlamentsgesetzen und der Verfassung stehen. Völkerrechtliche Regelungen können somit das nationale Verfassungsrecht nicht abbedingen; im Konfliktfalle geht das Verfassungsrecht vor. Aus einer Zusammenschau des Art. 25 GG mit anderen Bestimmungen des Grundgesetzes wie insbesondere den Art. 1 Abs. 2, 24 und 26 GG wird allerdings geschlossen, dass das Grundgesetz Konflikte des innerstaatlichen Rechts mit dem Völkerrecht möglichst zu vermeiden sucht. Daraus wird das Gebot einer völkerrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts einschließlich des Verfassungsrechts abgeleitet.[145]
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Völkerrechtliche Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, erlangen durch das in Art. 59 Abs. 2 GG vorgesehene Zustimmungsgesetz (Vertragsgesetz) den Rang eines einfachen Gesetzes. Dies bedeutet grundsätzlich, dass ein später erlassenes Gesetz die in das innerstaatliche Recht einbezogenen völkerrechtlichen Regeln nach der lex posterior-Regel abbedingen kann. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn wegen des klaren Wortlauts und Zwecks des widersprechenden späteren Gesetzes eine völkerrechtskonforme Auslegung oder eine Anwendung der lex specialis-Regel scheitern muss, was freilich sehr selten der Fall sein wird.[146] Eine Verfassungswidrigkeit des derogierenden späteren Gesetzes kann dann allenfalls unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes des Gesetzgebers gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot oder gegen eine im Lichte der völkervertraglichen Regelung ausgelegten widersprechenden Verfassungsnorm in Betracht kommen. Jedenfalls kann die bloße Tatsache, dass ein Gesetz einer von der Bundesrepublik übernommenen völkervertraglichen Verpflichtung zuwider läuft, nach dem geltenden Verfassungsrecht nicht ohne weiteres zu einer verfassungsgerichtlichen Aufhebung des Gesetzes führen. Unbeschadet dessen ist die Bundesrepublik aus völkerrechtlicher Sicht selbstverständlich verpflichtet, den völkerrechtskonformen Zustand wieder herzustellen, was nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung bedeutet, dass das völkerrechtswidrige Gesetz in dem vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren wieder aufzuheben ist.
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An der Rangerhöhung völkerrechtlicher Normen durch Art. 25 GG partizipieren völkervertragsrechtliche Bestimmungen dann, wenn sie Völkergewohnheitsrecht oder allgemeine Rechtsgrundsätze kodifizieren. Der höhere Rang wird freilich auch in diesen Fällen nicht den vertraglichen Bestimmungen als solchen, sondern den zugrunde liegenden Rechtssätzen des Gewohnheitsrechts zugeschrieben.
2. Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
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Als völkerrechtlichen Verträgen kommt auch den Menschenrechtsabkommen lediglich Gesetzesrang zu. Dies kann im Einzelfall,[147] wie dargelegt, dazu führen, dass Verstöße gegen die EMRK nur durch Gesetz wieder beseitigt werden können. Bis zur „Reparatur“ des Gesetzgebers bleibt der konventionswidrige Zustand bestehen. Angesichts der dynamischen Rechtsprechung des EGMR und seiner Bedeutung für die Herausbildung eines gemeineuropäischen Grundrechtsstandards, der auch für das europäische Unionsrecht maßgebend ist, besteht indes ein Bedarf, Konflikte zwischen der EMRK und dem innerstaatlichen Grundrechtsschutz nach Möglichkeit auszuschließen. Das Grundgesetz bietet dabei durchaus Ansatzpunkte, den Menschenrechtsabkommen einen erhöhten Bestandsschutz zu verleihen.
a) Ansätze einer Stärkung der Stellung der EMRK in der deutschen Rechtsordnung
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Gerade mit Blick auf die EMRK gab es verschiedene Ansätze, sie unmittelbar bzw. mittelbar mit Verfassungsrang auszustatten. So wurde vertreten, dem Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlicher Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ in Art. 1 Abs. 2 GG sei ein Verfassungsrang der EMRK zu entnehmen.[148] Im Hinblick auf den Charakter des Grundgesetzes als einer „normativen Verfassung“[149] ist zunächst nichts dagegen einzuwenden, sondern es ist vielmehr geboten, auch dem Bekenntnis in Art. 1 Abs. 2 GG normativen Gehalt zuzuweisen. Diese Bestimmung als Inkorporationsklausel zu verstehen, hieße indes die Reichweite der Grundsatzbestimmung zu überdehnen, wie über den Wortlaut hinaus insbesondere ein Vergleich mit der Inkorporationsbestimmung des Art. 25 GG ergibt, zumal Art. 1 Abs. 3 GG bindende Wirkung nur den „nachfolgenden Grundrechten“ zuschreibt. Art. 1 Abs. 2 GG bietet daher keine Handhabe, die Konventionsrechte als solche mit den im Grundgesetz ausdrücklich verankerten Grundrechten auf eine Stufe zu stellen. Auch andere Versuche einer Konstitutionalisierung der Konventionsrechte, etwa durch Einbeziehung der Freiheitsverbürgungen der EMRK in den Wesensgehalt des Art. 2 Abs. 1 GG (das allgemeine Freiheitsrecht), oder die Deutung des Straßburger Systems als eine supranationale „Konventionsgemeinschaft“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG überzeugen nicht; ferner muss der zeitweise vom Bundesverfassungsgericht verfolgte Ansatz, den Erlass eines konventionswidrigen Gesetzes als Willkürverstoß zu qualifizieren, von begrenzter Reichweite bleiben.[150]
b) Der Grundsatz menschenrechtskonformer Auslegung
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Allerdings kommt in dem Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG, der in Kenntnis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verfasst wurde,[151] eine nicht nur programmatisch zu verstehende spezifische Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes zum Ausdruck. Aus ihr folgt, vergleichbar der Regelung in Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung oder Art. 10 der rumänischen Verfassung, das spezielle Gebot menschenrechtskonformer Auslegung.[152] Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 in diesem Sinne erstmals – freilich ohne seinerzeit Art. 1 Abs. 2 GG zu erwähnen – folgenden Grundsatz aufgestellt:[153] „Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen, sofern dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt, eine Wirkung, die die Konvention indes selbst ausgeschlossen wissen will (Art. 60 EMRK). Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“ Im konkreten Fall ging es um die Herleitung der im Grundgesetz nicht explizit verankerten Unschuldsvermutung aus dem Rechtsstaatsprinzip. Die Interpretation dieses Prinzips im Lichte der EMRK, die ihrerseits durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisiert wird, war eine wesentliche Argumentationsstütze.[154] Auf das Gebot konventionskonformer Auslegung rekurrierte das Gericht in den kommenden Jahren nur selten.[155] Erst im Jahre 2004 wurde der Argumentationsfaden vom Zweiten Senat in seiner Görgülü-Entscheidung vom 14. Oktober 2004 wieder aufgegriffen und erstmals festgestellt, dass das Grundgesetz „mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz“ zuweise; dieser bilde „in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen“.[156] Dies bedeutet durchaus eine dogmatische Untermauerung des gegenüber