Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › II. Offene Staatlichkeit und europäische Integration
1. Die offene Staatlichkeit in der Bewährung
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Mit den Öffnungsklauseln des Grundgesetzes waren verfassungsrechtlich die Voraussetzungen geschaffen, die Bundesrepublik in eine intensive internationale Zusammenarbeit bis hin zur Integration in supranationale Gemeinschaften zu führen. Das Grundgesetz musste nun mit Leben erfüllt werden. Mit der fortschreitenden europäischen Integration, deren Einwirkung auf das nationale Recht immer tiefere Spuren hinterließ, wurden zunehmend die Grenzen der Integrationsfreundlichkeit des Grundgesetzes ausgelotet, bis schließlich im Wege einer Grundgesetzänderung ausdrückliche Integrationsdirektiven verankert wurden.
a) Europapolitische Weichenstellungen
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Die Europapolitik war seit der 1. Legislaturperiode ein zentrales Element der politischen Debatte. Die Bundesrepublik hatte zwar an der Gründung des Europarats, dessen Satzung bereits am 5. Mai 1949 unterzeichnet wurde, noch nicht mitwirken können,[47] doch war sie an Verhandlungen über die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) auf der Grundlage des Schuman-Plans[48] von Anfang an maßgeblich beteiligt.[49] Dabei traten innerhalb der politischen Kräfte der Bundesrepublik die unterschiedlichen europapolitischen Vorstellungen zu Tage. Während die CDU, insbesondere in der Person von Konrad Adenauer, der Westintegration der Bundesrepublik Vorrang einräumte, vertrat die SPD mit ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher das Ziel, Europa auf breiter Basis als dritte Kraft zwischen den USA und der Sowjetunion zu etablieren und so die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen. In der EGKS erblickten sie eine rein westeuropäische Lösung, die die Spaltung Deutschlands vertiefen würde.[50] Carlo Schmid, der den Schuman-Plan zunächst begrüßt hatte, bemängelte, dass das Vereinigte Königreich, dessen Regierung seinerzeit von der Labour-Partei gestellt wurde, und die skandinavischen Staaten der Gemeinschaft nicht angehören würden.[51]
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Das Vertragsgesetz über die Mitwirkung der Bundesrepublik an der EGKS, das noch vor Unterzeichnung des Vertrags mit den drei Westmächten über die Aufhebung des Besatzungsregimes (Deutschlandvertrag)[52] im Bundestag beraten wurde, konnte im Ergebnis auch gegen die Stimmen der SPD beschlossen werden,[53] da Art. 24 Abs. 1 GG lediglich ein einfaches Gesetz fordert, mithin eine verfassungsändernde Mehrheit nicht erforderlich war. Mit Beginn des Funktionierens der EGKS beendete die im Jahre 1949 von den Westalliierten und den Beneluxstaaten errichtete Internationale Ruhrbehörde, deren Errichtung im Parlamentarischen Rat gerade bei den „Europäern“ aller Parteien auf heftige Kritik gestoßen war,[54] ihre Arbeit.[55]
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Die parteipolitischen Auseinandersetzungen über die Europapolitik hielten an, so etwa auch bei der Debatte über die (letztlich gescheiterte) Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Ein breiterer Konsens konnte erst bei der Entscheidung über die Römischen Verträge erreicht werden: Für den Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und den Vertrag über die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG),[56] die am 25. März 1957 unterzeichnet wurden, stimmte schließlich auch die Mehrheit der SPD-Abgeordneten. Vorbehalte hatte es zunächst ebenso in der CDU gegeben, so namentlich bei Ludwig Erhard, der eine Beeinträchtigung der Marktwirtschaft und des Freihandels (im Verhältnis zu Drittstaaten) durch Dirigismus und Abschottung der Gemeinschaft befürchtete.[57] Der Einfluss Jean Monnets, der mit seinem „Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa“ einen informellen, parteiübergreifendenden Diskussionskreis maßgeblicher europäischer Politiker über Ziele und Wege der europäischen Integration etabliert hatte,[58] spielte für die Erlangung dieses weit reichenden Konsenses eine wichtige Rolle.[59]
b) Das Verhältnis zwischen deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht
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War die Frage nach einem möglichen Spannungsverhältnis zwischen den in der Verfassung verankerten Zielen einer europäischen Integration einerseits und der deutschen Wiedervereinigung andererseits sowie nach den daraus gegebenenfalls zu ziehenden Konsequenzen in erster Linie politisch zu beantworten, so war das bald zu Tage tretende Problem eines möglichen Konflikts zwischen dem Europäischen Gemeinschaftsrecht und tragenden Bestimmungen des deutschen Verfassungsrechts Gegenstand gerichtlicher, insbesondere verfassungsgerichtlicher Entscheidungen sowie rechtswissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Drei Konfliktlinien des Gemeinschaftsrechts standen im Vordergrund: erstens ein möglicher Konflikt mit dem Rechtsstaatsprinzip, insbesondere den Grundrechten (aa), zweitens ein Konflikt mit dem Demokratieprinzip (bb) und drittens ein Konflikt mit dem Bundesstaatsprinzip (cc).
aa) Grundrechte
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In seinem Urteil Costa/ENEL vom 15. Juli 1964 hatte der EuGH festgestellt, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vorbehaltlos gilt, so dass dem supranationalen Recht „keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können“.[60] Darin lag zugleich eine Aufforderung an die nationalen Verfassungsgerichte, sich einer Kontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts, insbesondere der Grundrechte, zu enthalten. Dies stieß insbesondere in Italien und Deutschland auf Sensibilitäten, da die nach dem Krieg angenommenen Verfassungen beider Länder den Grundrechten und ihrem einfachgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Schutz besonderen Stellenwert einräumen. Nachdem zunächst die Corte costituzionale in ihrer Frontini-Entscheidung vom 27. Dezember 1973 einen äußersten Vorbehalt zugunsten des Schutzes der fundamentalen Verfassungsprinzipien sowie der Grundrechte formuliert hatte,[61] behielt sich das Bundesverfassungsgericht in seinem sog. Solange I-Beschluss vom 29. Mai 1974 eine weiter gehende Kontrolle des innerstaatlich anwendbaren Gemeinschaftsrechts hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den im Grundgesetz verankerten Grundrechten vor. Zwar hatte das Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1967 das Europäische Gemeinschaftsrecht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH als eine „autonome Rechtsquelle“ anerkannt und daher Verfassungsbeschwerden gegen Akte der Gemeinschaft für unzulässig erklärt,[62] doch betonte es nunmehr, dass Art. 24 Abs. 1 GG nicht den Weg eröffne, „die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern“.[63] Ein „unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale“ sei der Grundrechtsteil des Grundgesetzes.[64] Solange sowohl ein unmittelbar demokratisch legitimiertes Parlament fehle, dem gegenüber die rechtsetzenden Gemeinschaftsorgane verantwortlich seien, als auch ein Grundrechtskatalog, der die Gewissheit gebe, dass ein dem Grundgesetz vergleichbarer Grundrechtsstandard gewährleistet ist, werde es seine Kontrolle ausüben, wobei es nicht über die Gültigkeit der Rechtsakte der Gemeinschaft, sondern nur über die innerstaatliche Anwendbarkeit entscheide. Drei der acht Richter des Zweiten Senats formulierten gegen diese Entscheidung ein Sondervotum, in dem sie zum einen die Unvereinbarkeit einer solchen Kontrolle mit Art. 24 Abs. 1 GG ins Feld führten, zum anderen auf die im Grundsatz auch von der Senatsmehrheit anerkannte grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des EuGH näher eingingen. Nicht zuletzt im Hinblick auf den sich abzeichnenden Widerstand in den Mitgliedstaaten hatte der EuGH gerade in dieser Zeit die Grundlagen für eine dynamische Grundrechtsrechtsprechung gelegt, indem er Grundrechtsverbürgungen des Gemeinschaftsrechts aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie den Garantien der seit 1974 von allen Mitgliedstaaten ratifizierten EMRK herleitete.[65]
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Die Linie des Solange I-Beschlusses war