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Eine Rückkehr zu einer aktiveren Kontrolle des Gemeinschaftsrechts schien sich mit dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 anzudeuten. Der Zweite Senat sprach selbstbewusst von einem „Kooperationsverhältnis“ zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH[69] und betonte besonders die Abhängigkeit der Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Deutschland von dem im Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl.[70] Nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckte Änderungen des „Integrationsprogramms“ und daraus hervorgehende „ausbrechende“ Rechtsakte seien im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich, was der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliege.[71] Deutschland bleibe einer der „Herren der Verträge“.
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Mit der Doktrin der „ausbrechenden Rechtsakte“ wird implizit die Letztentscheidungsbefugnis des EuGH für die Auslegung des Primärrechts bestritten. Mit dessen übergreifendem Rechtsprechungsauftrag (Art. 220, 230 EG) ist das nicht in Übereinstimmung zu bringen.[72] Offensichtlich wollte das Bundesverfassungsgericht einen „Warnschuss“ gegen allfälliges ultra vires-Handeln des EuGH selbst abgeben, dessen dynamische Rechtsfortbildung auch in anderen Mitgliedstaaten auf Vorbehalte stößt.[73] Die paradoxe Frage des „Quis custodiet custodes?“, d.h. in der Konsequenz, welches der beiden Rechtsprechungsorgane tatsächlich ultra vires handeln würde, wäre im Übrigen selbst im Falle einer ausnahmsweise zulässigen Kontrolle nicht aufzulösen, da das Vorliegen der Ausnahme streitig bliebe. In seinem „Bananenmarkt“-Beschluss vom 7. Juni 2000 stellte der Zweite Senat klar, dass das Maastricht-Urteil an der „Solange II-Rechtsprechung“ nichts geändert habe und daher Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen wegen einer möglichen Verletzung von Grundrechten durch sekundäres Gemeinschaftsrecht nur zulässig seien, wenn im Einzelnen dargelegt werde, „dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet“, d.h. „die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung [...] unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken“ sei.[74]
bb) Demokratieprinzip
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Grenzen der Integrationsbereitschaft der Bundesrepublik Deutschland leitete das Bundesverfassungsgericht auch aus dem Demokratiegebot des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) her. In seiner Solange I-Entscheidung führte es als zusätzliches Argument für seine Zuständigkeit für eine Kontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts an, dass die Gemeinschaft noch „eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch voll verantwortlich sind“, entbehre.[75] Dieser Sachverhalt wurde später in der Solange II-Entscheidung freilich nicht als unüberwindliche Hürde für die Rücknahme der Gerichtsbarkeit über das abgeleitete Gemeinschaftsrecht angesehen, zumal die Integration weiter vorangeschritten sei.[76]
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In seinem Maastricht-Urteil stellte das Gericht im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG, der eine Änderung der Grundsätze der Art. 1 und 20 ausschließt, fest, dass „der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt“ seien, da demokratische Legitimation maßgeblich „durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten“ erfolge.[77] Die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Europäische Parlament trete bislang nur „stützend“ hinzu; sie müsse „schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden“.[78] Adressat dieser Direktive, die bereits unter Berücksichtigung auch des neuen Art. 23 GG[79] begründet wurde, sind naturgemäß die deutschen Verfassungsorgane, soweit sie auf die Entscheidungen über weitere Integrationsschritte Einfluss nehmen können.
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Der Grundgedanke der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich somit in der einfachen Korrelation zusammenfassen, dass der Umfang der Zuständigkeiten der Europäischen Union das notwendige Maß demokratischer Legitimation der Gemeinschaftsorgane bestimmt.[80] Welche äußersten Grenzen damit der deutschen „Integrationsgewalt“[81] bei den Vertragsverhandlungen gezogen sind, ist freilich eine nicht leicht zu beantwortende Frage. Sie ist auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung des jeweiligen Integrationsschritts zu beantworten, wobei den zuständigen Verfassungsorganen eine Einschätzungsprärogative zukommt.[82]
cc) Bundesstaatsprinzip
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Da der Bund auch Hoheitsrechte übertragen darf, die innerstaatlich Kompetenzen der Länder betreffen, zieht die insofern „länderblinde“ Kompetenzerweiterung der Europäischen Gemeinschaft/Union in der Regel auch Kompetenzeinbußen der Länder nach sich. Die Länder haben sich daher früh über eine Einengung ihrer Gesetzgebungsbefugnisse beklagt, die wegen der Ausschöpfung der konkurrierenden Zuständigkeiten durch den Bundesgesetzgeber ohnehin begrenzt sind.[83] Wenn weitergehend ein drohender Verlust ihrer Eigenstaatlichkeit geltend gemacht wird, so wird damit auf einen möglichen Konflikt mit Art. 79 Abs. 3 GG abgehoben, der die Gliederung des Bundes in Länder und – in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG – das Bundesstaatsprinzip für nicht abänderbar erklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss den Ländern ein „Kern eigener Aufgaben als ‚Hausgut‘ unentziehbar“ verbleiben,[84] wobei das Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1992 offen ließ, ob dies nur im Verhältnis zum Bund oder auch bei Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft gelten soll.[85] Diese Frage wurde bald darauf durch den in das Grundgesetz eingefügten neuen Art. 23 GG explizit im letzteren Sinne beantwortet.
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Die Länder versuchten früh, zur Kompensation ihrer Kompetenzverluste stärker an der Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaften beteiligt zu werden. Bereits das Zustimmungsgesetz zu den Römischen Verträgen von 1957[86] hatte die Verpflichtung der Bundesregierung statuiert, nicht nur