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In der Öffentlichkeit und auch vom EGMR ist die Entscheidung „Görgülü“ freilich zunächst eher als problematisch, wenn nicht konventionsfeindlich wahrgenommen worden. Dazu gaben einige generelle Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts Anlass. So heißt es, das Grundgesetz verzichte „nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“, so dass es „nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit“ widerspreche, „wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“.[159] Und zur Verpflichtung der Staatsorgane, Entscheidungen des EGMR, durch die ein Konventionsverstoß festgestellt wurde, bei der erneuten Prüfung des Falles zu „berücksichtigen“, bemerkt das Gericht: „[…] die zuständigen Behörden und Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen“.[160] Wenngleich das Bundesverfassungsgericht diese Aussage auf mehrpolige Rechtsbeziehungen bezogen wissen will, die vom Straßburger Gerichtshof wegen einer sich ändernden Tatsachengrundlage (begrenzte Rechtskraft) oder auch wegen der Nichtberücksichtigung von Grundrechtspositionen Dritter (nicht am Verfahren Beteiligter) nicht abschließend gewürdigt werden konnten, bleiben seine Ausführungen zumindest missverständlich. Sie scheinen den zuvor anerkannten Grundsatz der menschenrechtskonformen Auslegung des Verfassungsrechts – mit der entsprechenden Unterordnung des einfachen Rechts – erheblich zu relativieren.[161] Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg wegen nicht hinreichender Berücksichtigung der Entscheidung des EGMR für verfassungswidrig erklärt. Da das Oberlandesgericht, vermutlich durch die einseitig verstandenen Vorbehalte des Bundesverfassungsgerichts ermuntert, auch in Folgeentscheidungen im Widerspruch zum Straßburger Urteil judizierte, konnte das Bundesverfassungsgericht diesem erst nach mehrfacher Neubefassung zur Durchsetzung verhelfen.[162]
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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weist deutlich auf das Problem hin, dass es bei mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen, in denen die Grundrechtsbeeinträchtigung des einen zum Schutz von Grundrechten eines anderen vorgenommen wird, zu unterschiedlichen Bewertungen nicht aus Missachtung von Grundrechten, sondern gerade aus dem Antrieb zur Grundrechtsverwirklichung kommen kann. Stehen nach deutschem Recht zudem Grundrechtspositionen auf dem Spiel, die im Konventionsrecht nicht ausdrücklich anerkannt oder anders bewertet werden, kann es zu einem ohne Verfassungsänderung kaum lösbaren Konflikt kommen. Dies dürfte freilich ein äußerst selten zu erwartender Ausnahmefall sein. Denn im Rahmen der Schrankenbestimmungen der Konventionsrechte berücksichtigt und gewichtet der Straßburger Gerichtshof durchaus Rechtspositionen und Interessen, die nicht durch Konventionsrechte geschützt sind. So wird die Konventionsrechtsprechung auch bei mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen in aller Regel eine mit der deutschen Grundrechtsordnung kompatible Linie vorgeben.
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IV. Entwicklungsperspektiven
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Der Grundgesetzgeber von 1948/49 hat mit der seinerzeit einzigartigen Öffnung der Staatlichkeit eine zukunftsweisende Entscheidung getroffen, die bis heute trägt. Dominierte anfangs der Eindruck einer nahezu bedingungslosen Öffnung für eine europäische Einigung, von der man die Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft als vollberechtigtes Mitglied sowie die dauerhafte Sicherung des Friedens und der Freiheit erwartete, so wurden mit voranschreitender Integration und wachsendem Selbstbewusstsein die grundgesetzlichen Grenzen der Öffnung ausgelotet. Vor allem der mit dem Grundgesetz und seiner Konkretisierung durch die Verfassungsrechtsprechung erreichte hohe Grundrechtsstandard sollte gegen eine ausgreifende Gemeinschaftsgewalt verteidigt werden, auch wenn damit letztlich gemeinschaftsrechtliche Grundsätze in Frage gestellt wurden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht seinen mit der viel zitierten Solange I-Entscheidung aus dem Jahr 1974 erhobenen Kontrollanspruch hinsichtlich des sekundären Gemeinschaftsrechts im Jahr 1986 erheblich abmilderte, hält es an einem letzten, einmal stärker, einmal schwächer akzentuierten Vorbehalt fest, womit es im Kreis der Verfassungsgerichte heute freilich keineswegs allein steht.[163] Der verfassungsändernde Gesetzgeber nutzte im Jahre 1992 die auf dem Weg zu einer politischen Union für notwendig gehaltene Erweiterung des Integrationsprogramms zugleich, den zuständigen deutschen Staatsorganen Direktiven für die weiteren Integrationsschritte vorzugeben. Orientiert an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dienen diese insbesondere dem Schutz der identifikationsstiftenden Grundlagen der deutschen Verfassungsordnung sowie einer der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland Rechnung tragenden Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Union.
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Der im Jahre 1992 in das Grundgesetz eingefügte Art. 23 GG war nicht nur Grundlage für die Annahme der Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza, sondern hat auch die Möglichkeit der Weiterentwicklung der Europäischen Union durch den Europäischen Verfassungsvertrag eröffnet, da dieser an dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung festhält. Sollte der Europäische Verfassungsvertrag in Kraft treten, so wäre es noch schwerer vorstellbar, dass es überhaupt einen Anlass für eine Aktualisierung der Vorbehalte der deutschen Verfassungsrechtsprechung geben könnte. In dem Verfassungsvertrag sind nachdrücklicher als bisher diejenigen Prinzipien verankert, die, wenn nicht eine Kongruenz, so doch eine funktionale Äquivalenz zu den tragenden Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung aufweisen. Was die bislang hypothetische spätere Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat anbetrifft, so wäre dieser Schritt nicht durch Art. 23 GG gedeckt. Nach zutreffender, freilich keineswegs unstreitiger Auffassung könnte dieser Schritt ohne eine Außerkraftsetzung des Grundgesetzes, d.h. durch eine entsprechende Grundgesetzänderung erfolgen.[164]
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Nicht befriedigen vermag die grundgesetzliche Regelung der Stellung des Völkervertragsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Der einfache Gesetzesrang völkerrechtlicher Verträge entfaltet namentlich im Hinblick auf die dynamischen Menschenrechtssysteme, insbesondere das System der Europäischen Menschenrechtskonvention, Konfliktpotenzial, welches zwar durch das auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Gebot völkerrechts- bzw. menschenrechtskonformer Auslegung weitgehend entschärft wird. Um indes bei der Gesetzesanwendung eine effektive vorrangige Beachtung der EMRK sicherzustellen, erscheint es zweckmäßig, nicht nur das Völkergewohnheitsrecht, sondern im Wege einer Grundgesetzänderung auch das Völkervertragsrecht mit Übergesetzesrang auszustatten. Die überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten der EU erkennt einen solchen Vorrang an. Es wird für die künftige Entwicklung darauf ankommen, dass die nationalen Verfassungsordnungen angesichts einer zunehmenden Vernetzung der nationalen, internationalen und supranationalen Rechtsregimes geeignete Verknüpfungs- und Koordinierungsmechanismen bereithalten.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 14 Offene Staatlichkeit: Deutschland › Bibliographie
Bibliographie
Peter Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 34 |
Albert Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 1975 |
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