Für letzteren Fall leuchtet es ein, dass „das Selbstbestimmungsrecht grundrechtlich unterfüttert“75 ist.76 In ersterem Fall ist hingegen ein eigenständiger Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts gegeben, bei dem der Versuch versagt, das Selbstbestimmungsrecht allein auf die Religionsfreiheit zurückzuführen. Das Schaffen von günstigen Bedingungen für die Religionsausübung stellt noch keine Betätigung der Religionsfreiheit dar. Vielmehr zeichnet sich dort deutlich der Charakter des Selbstbestimmungsrechts als weiterreichendes Freiheitsrecht der Institution Kirche ab.77 Es dient der Abgrenzung von Regelungsbereichen zweier Institutionen, des Staates einerseits und der Kirche andererseits. Zutreffend ist in dieser Hinsicht auch die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, wenn es in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht betont, dass es „der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgesellschaften (Art. 4 Abs. 2 GG) die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt.“78
Die Einordnung des Selbstbestimmungsrechts als selbständige institutionelle Gewährleistung wird durch die Beratungen der verfassungsgebenden Nationalversammlung von Weimar bestätigt, die die Trennung von Kirche und Staat in der Weimarer Verfassung als eine Trennung von Institutionen diskutierten.79 Nur so lässt sich auch die für die Beibehaltung des Sonderstatus tragende Argumentation, die sich auf die besondere gesellschaftliche Verantwortung der Kirche bezieht, zutreffend verstehen; die Verantwortung der Kirche wurde nicht als kollektive Verantwortung der einzelnen Gläubigen wahrgenommen, sondern als die gesellschaftliche Verantwortung der Kirchen als Institutionen. Bezeichnend ist, dass diejenigen Vertreter, die damals die Bedeutung der Institution Kirche bezweifelten, gerade die Vergleichbarkeit der Kirchen mit einfachen privatrechtlichen Vereinen betonten; entgegen diesen Stimmen wurde jedoch den Kirchen eine privilegierte Stellung eingeräumt. Die historische Verankerung des Selbstbestimmungsrechts unterstreicht damit die eigene Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts gegenüber der Religionsfreiheit. Die Gegenthese, nach der das Selbstbestimmungsrecht vollständig durch die Religionsfreiheit überlagert sei, ist folglich ahistorisch.80
Das Verständnis als institutionelle Garantie ermöglicht es, dem Selbstbestimmungsrecht eine eigenständige Bedeutung auch gegenüber der Religionsfreiheit abzugewinnen, soweit sich beide überschneiden: Die Religionsfreiheit hat als grundrechtliche Gewährleistung zuvorderst eine Abwehrfunktion gegenüber staatlichen Beschränkungen.81 Aufgrund der durch Art. 1 Abs. 3 GG vermittelten Grundrechtsbindung darf der staatliche Gesetzgeber lediglich solche Beschränkungen der Religionsfreiheit vornehmen, die im Hinblick auf einen verhältnismäßigen Ausgleich mit anderen Verfassungsgütern erforderlich sind.82 Insoweit ein Konflikt verschiedener Verfassungsgüter im Raum steht, hat der Staat diesen zu antizipieren und die widerstreitenden Verfassungsgüter in einen Ausgleich zu bringen. Bedeutsam ist jedoch, dass ausschließlich der staatliche Gesetzgeber die Befugnis zur ausgleichenden Regelung innehat, nicht hingegen der Grundrechtsberechtigte selbst. Die garantierte Religionsfreiheit wird demnach im Regelfall eine durch den Staat umrissene, in diesem Sinne „fremdbestimmt“ ausgestaltete Freiheit sein. Wird nun das garantierte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften ins Spiel gebracht und das institutionell verbürgte Recht als Gewährleistung von eigenen Regelungskompetenzen verstanden, so erfolgt aufgrund des Selbstbestimmungsrechts nach Art. 137 Abs. 3 WRV eine Verschiebung der Kompetenz. Im Grundsatz ordnen und verwalten die Religionsgesellschaften ihre eigenen Angelegenheiten selbst; dass sie dies nur innerhalb des für alle geltenden Gesetzes dürfen, ihnen damit also ebenfalls eine Bindung auferlegt wird, ändert nichts an der grundsätzlich gegebenen Umkehrung der Regelungskompetenzen. Erst aufgrund des Selbstbestimmungsrechts obliegt es im Grundsatz allein den Religionsgesellschaften, sowohl ihre Angelegenheiten auszugestalten als auch sie zugleich mit anderen widerstreitenden Rechtspositionen abzustimmen; eine vergleichbar weitgehende Kompetenz folgt nicht bereits aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit.
Damit steht Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV, soweit durch die Selbstbestimmung auch die Religionsfreiheit ausgeübt wird, in seiner Anwendung mit einer eigenen Bedeutung neben Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Eine vollständige Überlagerung des Selbstbestimmungsrechts durch die Religionsfreiheit findet nicht statt.83 Wenn der Staat eine Regelung trifft, ist diese sowohl an Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV als auch an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu messen; im Rahmen von Art. 137 Abs. 3 WRV ist die Entscheidung des Verfassungsgebers zugunsten einer eigenen Regelungskompetenz der Religionsgesellschaft zu berücksichtigen; diese kann – soweit die Außenschranke des für alle geltenden Gesetzes nicht betroffen ist – in ihrer maximalen Reichweite eine staatliche Regelungskompetenz vollständig verdrängen. Soweit sich für die Kirche aufgrund des Selbstbestimmungsrechts eine umfassende Regelungskompetenz ergibt, hat die Religionsfreiheit keinen weiterreichenden Regelungsgehalt; die institutionelle Garantie des Art. 137 Abs. 3 WRV verhilft in diesem Fall auch der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu einer umfänglichen Geltung.
4. Zusammenfassung
Für die staatliche Sicht auf die Kirche als Institution lässt sich festhalten, dass die Kirche wegen ihrer Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung einen besonderen Freiraum bei der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zugestanden bekommt, der weiter ist als derjenige sonstiger privatrechtlicher Vereinigungen.84 Das Selbstbestimmungsrecht gewährleistet den Kirchen als institutionelle Garantie eine besondere Regelungskompetenz. Zu Überschneidungen mit dem Schutzbereich der Religionsfreiheit kann es insoweit kommen, als die Regelung einer selbstbestimmten Angelegenheit zugleich als Ausübung der Religionsfreiheit erscheint. Ist ein Tätigwerden der Kirche allerdings bereits umfänglich durch das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV gedeckt, so verwirklicht sich in gleichem Maße auch die korporative Religionsfreiheit. Als primärer Bezugspunkt der kirchlichen Selbstbestimmung steht damit die Gewährleistung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV im Vordergrund.
II. Kirchliche Perspektive
Ein Perspektivenwechsel soll nun noch einen Einblick ermöglichen, wie die Kirche die ihr seitens des Staates garantierte Regelungskompetenz wahrnimmt. Bedarf es zur Klärung der rechtstheologischen Frage nach der innerkirchlichen Legitimität von Kirchenrecht noch der näheren theoretischen Grundlegung in weiteren Arbeiten85, soll es für die vorliegende Arbeit ausreichen, sich an der praktischen Einschätzung der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Gliedkirchen hinsichtlich der Setzung von Kirchenrecht zu orientieren.86
Das Bewusstsein für ein selbstbestimmtes kirchliches Wirken tat sich in der evangelischen Kirche erstmals vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus auf. Als ein Meilenstein des protestantischen Selbstverständnisses, dass kirchliche Regelungen zur Wahrung des innerkirchlichen Propriums notwendigerweise vom Staat unbeeinflusst zu treffen sind, ist die Barmer Theologische Erklärung von 1934 anzuführen; die dort formulierten Grundsätze finden über Art. 1 Abs. 3 S. 1 GO-EKD auch Eingang in die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Gliedkirchen haben vor diesem Hintergrund allesamt eigenes Kirchenrecht erlassen und gehen zugleich von ihrer Eigenlegitimation aus. Nach Auffassung der Kirche ist die eigene Rechtsetzung auf ihren Auftrag – die Verkündigung des Evangeliums – bezogen und nimmt ihm gegenüber eine dienende Funktion ein.87
Dass der Kirche durch das Grundgesetz die Freiheit eingeräumt ist, ihre eigenen Angelegenheiten zu ordnen und zu verwalten, hat indessen ebenfalls Einfluss auf den praktischen Umgang mit der eigenen Rechtsetzungsbefugnis.88 Die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit bedarf zum einen der Ausfüllung durch den kirchlichen Gesetzgeber, zum anderen geht mit der verfassungsrechtlichen Verankerung zugleich eine Rücksichtnahme auf die übrige Verfassungsordnung einher. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass das kirchliche Recht auch von anderen Notwendigkeiten