Das Bundesverfassungsgericht124 sowie Teile der Literatur125 griffen stattdessen die Bereichsscheidungslehre auf. Nach dieser Lehre unterteilen sich die möglichen kirchlichen Wirkungsbereiche in die rein innerkirchlichen, die rein staatlichen und die gemeinsamen Angelegenheiten. Den innerkirchlichen Bereich soll der Staat nicht regeln können, während im Bereich der gemeinsamen Angelegenheiten das kirchliche Selbstbestimmungsrecht durch das staatliche Recht berücksichtigt werden müsse. Bei rein staatlichen Angelegenheiten sollen die Religionsgemeinschaften mangels einer Betroffenheit in den eigenen Angelegenheiten ausnahmslos dem staatlichen Recht unterfallen.126 Zwischen den einzelnen Bereichen sollte nach den Kriterien der „Natur der Sache“ oder der „Zweckbestimmung“ abgegrenzt werden,127 also eine objektiv-rechtliche Bestimmung der eigenen Angelegenheiten vorgenommen werden.
Die Bereichsscheidungslehre ist indessen nur schwerlich mit dem Wortlaut von Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV zu vereinbaren, der gerade anordnet, dass die Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet; dies bedeutet jedoch, dass bereits die verallgemeinernde Aussage, es gebe einen innerkirchlichen Bereich, der sich per se einer staatlichen Regelung verschließe, schwerlich zutreffen kann.128 Jedenfalls entzieht es sich aber einer objektiven und allgemeingültigen Feststellung, wo der innerkirchliche Bereich aufhören soll. Die zur Abgrenzung zwischen den einzelnen Bereichen verwendeten Begrifflichkeiten verschleiern zudem, dass die Definitionskompetenz für die Gewichtung der von der Kirche benannten eigenen Angelegenheiten auf den Staat, namentlich die Judikative übertragen wird. Schließlich bieten die genannten Abgrenzungskriterien keinen nachvollziehbaren Maßstab,129 sodass es zu einer willkürlich getroffenen Abgrenzungsentscheidung kommen muss. Folglich wird durch die Bereichsscheidungslehre nicht nur die Definitionskompetenz bezüglich der eigenen Angelegenheiten auf den Staat verlagert, sondern zusätzlich auch eine willkürliche Begrenzung130 des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ermöglicht. Dadurch wird im Ergebnis aber die Grundidee des Art. 137 Abs. 3 WRV – die Selbstbestimmung der Kirche in den eigenen Angelegenheiten – negiert.
Diese Bedenken führten dazu, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Standpunkt um die Jedermann-Formel ergänzte. Danach sollte kein für alle geltendes Gesetz vorliegen, wenn die Kirche in ihrer Besonderheit durch staatliche Gesetze härter betroffen sei als ein Jedermann.131 Die Jedermann-Formel kann die genannten Bedenken jedoch nicht ausräumen und ist selbst dem Vorwurf ausgesetzt, dass es sich bei ihr inhaltlich nur um ein Wiederaufleben des allgemeinen Gesetzesvorbehalts der Weimarer Zeit handelt.132
Im Verlauf weiterer Entscheidungen ging das Bundesverfassungsgericht deshalb zu einer Abwägung zwischen den kollidierenden Rechtsgütern – dem Selbstbestimmungsrecht einerseits und den staatlich zu schützenden Interessen andererseits – über, ohne sich jedoch ausdrücklich von den früheren Begründungsansätzen zu lösen.133 Die Abwägungslehre, die insbesondere von Hesse134 im Anschluss an Martin Heckel135 vertreten und ausgestaltet wurde, geht davon aus, dass aufgrund des Charakters des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts als Freiheitsrecht eine der allgemeinen Freiheitsgrundrechtsdogmatik entsprechende Abwägung durchzuführen sei, durch die im Wege praktischer Konkordanz zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und den entgegenstehenden Rechtspositionen ein Ausgleich herbeigeführt werden soll, der beiden Positionen zu bestmöglicher Entfaltung verhilft.136 Dieser Ansatz bestimmt bis heute die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts.137
b. Kritik an der Abwägungslösung und Vorzugswürdigkeit eines kollisionsrechtlichen Ansatzes
Die Idee einer Abwägung widerstreitender Interessen – konkret des Selbstbestimmungsrechts einerseits und staatlich zu schützender Interessen andererseits – mag bei einem ersten Blick angesichts der umfassend ausgearbeiteten Dogmatik zur Abwägung von Freiheitsgrundrechten naheliegen. Dies gilt umso mehr, als es durchaus zutreffend ist, Art. 137 Abs. 3 WRV als ein Freiheitsrecht der Institution Kirche zu bezeichnen.
Zur Beurteilung einer Schrankenbestimmung ist es jedoch nicht ausreichend, isoliert die Schranke in den Blick zu nehmen und das Schutzgut außer Acht zu lassen. Denn auch der Verfassungsgeber bestimmt die konkrete Reichweite eines Rechts nicht allein durch die Festlegung der Schranke, sondern er beachtet vielmehr das Zusammenspiel von Grundsatz und Grenze.138 Der Abwägungslösung des Bundesverfassungsgerichtes liegt nunmehr jedoch die Annahme zu Grunde, dass es grundsätzlich möglich sei, jedes staatliche Interesse als Gegenposition zum Selbstbestimmungsrecht der Kirche in die Abwägung mit einzubeziehen. Damit geht die Gefahr einher, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirche willkürlichen Gemeinwohlerwägungen des Staates preisgegeben wird.139 Da das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich jedes staatliche Interesse für abwägungsrelevant erachtet, steht zu befürchten, dass die ursprüngliche Funktion und Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts aus dem Blick verloren wird. Dass sich das Bundesverfassungsgericht dieser Schwäche der Abwägungslehre durchaus bewusst ist, zeigt sich darin, dass es die besondere Bedeutung erneut zu begründen versucht und dabei die Religionsfreiheit als Rettungsanker gegen eine Unterwanderung des Selbstbestimmungsrechts heranzieht140. Dass das Selbstbestimmungsrecht jedoch nicht ausschließlich auf die Religionsfreiheit bezogen ist, sondern vielmehr für die Kirche eine gewichtige Eigenbedeutung hat, wurde bereits dargelegt.141 Die Schwäche der Abwägungslösung liegt also darin begründet, dass der eigenständige Bedeutungsgehalt des Selbstbestimmungsrechts in Vergessenheit gerät.
Eine Dogmatik, die eine Bestimmung der Schranke des Selbstbestimmungsrechts zutreffend vornehmen will, muss deshalb den Eigenwert und ursprünglichen Gewährleistungsgehalt des Selbstbestimmungsrechts im Blick behalten. Wird die verfassungsrechtliche Gewährleistung als eine bewusste Privilegierung der Kirchen bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung verstanden, so folgt daraus, dass es der Institution Kirche grundsätzlich möglich bleiben muss, die eigenen Angelegenheiten nach ihren Vorstellungen zu regeln, ohne zugleich stets irgendwelche willkürlich gewählten staatlichen Gemeinwohlerwägungen einbeziehen zu müssen. Stehen sich Kirche und Staat als Institutionen gegenüber, in deren Verhältnis nach der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung grundsätzlich die eigenständig getroffene kirchliche Regelung in den eigenen Angelegenheiten den Vorrang hat, darf diese Freiheit zur Regelung nicht durch die Absenkung der Schrankenanforderungen gleichsam durch die Hintertür wieder aufgehoben werden. Vielmehr ist zu beachten, dass der Institution Kirche durch die Verfassung eine eigenständige Regelungskompetenz zuerkannt ist, die nicht durch jedes einfache staatliche Gesetz zur Umsetzung beliebig gewählter Allgemeinwohlinteressen beeinflusst und beschränkt werden kann.142
Bei der Garantie des Selbstbestimmungsrechts handelt es sich nicht nur um eine freiheitsrechtliche Verbürgung mit Bezug auf die Religionsfreiheit, sondern sie geht weiter: Die Regelungskompetenz in den eigenen Angelegenheiten ist der Kirche unabhängig von der Religionsfreiheit institutionell gewährleistet. Damit hat die Garantie einen umfassenderen Gehalt als ein klassisches Freiheitsgrundrecht, das primär der Abwehr von Eingriffen in eine Freiheitsposition dient.143 Der Kirche wird nicht nur die Freiheit, sondern zusätzlich auch die grundsätzlich ausschließliche Kompetenz zur Regelung in den eigenen Angelegenheiten garantiert.144
Dieses Verhältnis von Kirche und Staat legt es nahe, Art. 137 Abs. 3 WRV als eine Kollisionsnorm zu begreifen.145 Die Frage nach der Verortung