Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1). Judith Kilnar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Kilnar
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Год издания: 0
isbn: 9783964640017
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zuckte zusammen, als er mich mit dem Kosenamen anredete, den meine Mutter immer benutzte.

      »… so belügen kannst du mich nicht«, fuhr er fort und machte einen Schritt in meine Richtung. »Eine hast du mindestens umgebracht.« Er wies mit dem Finger auf Evies leblosen Körper. »Du sagst, es war die Einzige?« Er schaute mir fragend ins Gesicht und ich nickte schnell.

      »Hmm … dann bist du wohl eine Schwache? Oder eine besonders Mächtige? Die Augen leuchten immer noch«, murmelte er leise. »Sonne auf jeden Fall, aber was noch? Nun ja, wen interessiert das schon? Niemand wird es je herausfinden.«

      Er hatte kurz geistesabwesend gewirkt, doch nun wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Für dich macht das keinen Unterschied.«

      Als ob ich überhaupt irgendetwas von dem verstanden hätte, was er gesagt hatte!

      »Tot ist tot«, fauchte er in veränderter Stimmlage.

      Tot? Das verstand ich. Entsetzt stolperte ich zurück.

      Auch der Earl trat einen halben Schritt zurück und kauerte sich auf den Boden. So wie eine Katze, die sich bereit zum Sprung machte. Er stieß ein unmenschliches Knurren hervor, das mir die Haare zu Bergen stehen ließ und meinen Fluchtinstinkt wachrief.

      Der Earl fing an, sich zu verändern. Seine Finger wurden länger und länger, bogen sich wie die Klauen eines Adlers.

      Sein Gesicht schien aufzureißen, Fellbüschel sprossen aus der Haut. Seine schwarzen Augen wurden größer und zogen sich in die Breite. Sein Bauch hingegen zog sich in die Länge. Als sein Hemd aufplatzte, konnte ich runde, matschbraune Schuppen erkennen. Die Beine wuchsen in seinen Körper hinein und die Arme immer weiter hinaus, bis er auf ihnen zu stehen schien.

      Er riss sich den Mantel herunter und ich konnte erkennen, warum er ihn die ganze Zeit getragen hatte. Aus seinem Rücken entfalteten sich zwei lederne Flügel, die zwischen den Gangwänden kaum Platz hatten, sodass er sie nicht ganz ausbreiten konnte. Die Nase und der Mund wuchsen zusammen zu einem braunen, krummen Schnabel, den das Geschöpf jetzt öffnete, wobei es einen grellen Schrei hervorstieß. Es war ein Knurren, Zischen und Krähen zugleich.

      Es war der unpassendste Moment, aber beim Anblick der Kreatur fiel mir die alte Henne unseres Gärtners ein, die voriges Jahr gestorben war. Nur hatte das Huhn keinen schuppigen Schlangenkörper mit einem Hundegesicht gehabt. Außerdem war diese Kreatur leider äußerst lebendig. Gerade legte sie den Kopf in den Nacken, stieß ein weiteres keckerndes Knurren aus und schlängelte sich auf mich zu. Es war närrisch, da ich diesem Monster nie entkommen würde, doch mein Fluchtinstinkt gewann die Oberhand. Ich drehte mich um und rannte panisch los. Ein hämisches Zischeln erklang hinter mir, als würde das Monster mich für meinen erbärmlichen Fluchtversuch auslachen. Ich rannte trotzdem weiter, so schnell ich konnte. Nur war ich nicht besonders erfolgreich damit, da ich ein schweres Kleid mit mehreren Unter- und Überröcken trug.

      Ein schleifendes Geräusch hinter mir informierte mich, dass der Schlangenkörper mir folgte. Ich strengte mich in panischer Angst bis zum Äußersten an und meine Augen fingen erneut an zu brennen. Es war ein quälender Schmerz, der mir fast den Verstand raubte. Diesmal hielt ich meine Augen geöffnet, da es zuvor ohnehin nichts genutzt hatte, sie zu schließen, und rannte einfach weiter. Vor mir konnte ich eine Biegung im Gang sehen, und auf dem Spiegel, der dort die Wand schmückte, sah ich mich und das Monster. Mich mit strahlenden goldenen Augen, die Blitze in alle Richtungen abschossen.

      Instinktiv duckte ich mich, als einer von dem Spiegel abprallte und zurückkam. Der Blitz zischte über mich hinweg und ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Ich wirbelte herum und sah eine große Staubwolke. Das Monster war verschwunden.

      Verwirrt schaute ich mich um. Meine Augen schossen brennende Pfeile umher, deren flackerndes Licht den Gang golden erhellte. Was war nur los mit mir?

      Da hörte ich plötzlich das leise Zischeln von Flammen direkt vor mir. Ich konnte den Blick nicht schnell genug abwenden und ein goldener Feuerblitz, der von einem Spiegel zurückgeworfen wurde, traf mich mitten in den Augen. Es war ein Schmerz, wie ich ihn noch nie verspürt hatte, als würde ich innerlich verbrennen, als wäre alle Peinigung in meinen Körper übertragen worden und wollte mich zerstören.

      Mein gellender Schrei hallte durch die Gänge, bevor alles schwarz wurde, und ich fiel. Immer tiefer. Doch gleichzeitig schien ich in Millionen Stücke zerrissen zu werden und meine Schreie konnten die gefühlte Qual nicht mehr ausreichend ausdrücken.

      Ich spürte und roch warmes Blut, das mir die Wangen hinunterlief. Es tropfte aus meinen Augen und verklebte meine Wangen, wie Tränen. Dann war alles schwarz.

      Aus den Lexika der Augenschönen

      (Band 1, Kapitel 6)

      Das erste Zeichen dafür, dass jemand ein Augenschön ist, ist die Veränderung der Augenfarbe innerhalb der ersten sieben Lebensjahre. Meist ereignen sich in der Zeit danach viele Unfälle, die erst nach und nach seltener werden. Bei solchen Gefühlsausbrüchen kann es auch zum Tod einer oder mehrerer Personen kommen. Die Erste Fahrt in die Inneren Schleifen ereignet sich in der Regel zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr während gewünschten Zauber in Beibehaltung eines Gefühlsausbruchs. Beim gewöhnlichen Tode fährt das Augenschön sofort in die Inneren Schleifen. (So ist auch die Erste Fahrt mit nur dreizehn Jahren möglich.)

      Aus dem Bericht:

      Die Erste Fahrt von E. Shepden

       Kapitel 3

      »… ist einfach so hier reingeplatzt.«

      »In die dritte Schleife?«

      »Ja … ist ungewöhnlich … wohl eine mächtige Magie.«

      »Welches Alter?«

      »Ich schätze so sechzehn, siebzehn.«

      »Ehrlich? Ganz schön spät für so eine Kraft.«

      »Ja, … die anderen kommen meistens früher. Der normale Durchschnitt kommt eher in diesem Alter.«

      »Könnte das womöglich eine Titanin sein? … mehrere … Elternteile?«

      »Die letzten Titanen … schon eine Weile her …«

      »Die Möglichkeit kann bei so einer Kraft durchaus bestehen.«

      »Ja, aber … schaut! Sie bewegt sich.«

      Verschwommene Gesprächsfetzen sickerten langsam in meinen Kopf, der pochte, als wollte er die Trommeln am Hofe des Königs übertönen. Ein leises Stöhnen drang über meine Lippen und ich drehte den Kopf herum, sodass meine Wange kühlen Boden berührte. Marmor vielleicht? Ich öffnete die Augen und sah in ein schummrig waberndes Licht, das aus der Luft selbst zu kommen schien. Leicht hob ich eine Hand an und fuhr durch den weißen Nebel, der den Boden bedeckte. Ja, er war aus Marmor. Hatte ich es doch gewusst! Wo war ich hier?

      »Bin ich tot?«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme zu niemand Bestimmtem.

      »Schön wär’s«, antwortete eine fremde männliche Stimme hinter mir.

      »Pssst«, zischte ein weiterer Mann.

      Ich richtete mich ein Stück auf und dachte angestrengt nach. Was war passiert? Evie!, durchschoss es mich. Das seltsame Leuchten, das von meinen Augen auszugehen schien, der Mann im Mantel. Die Blitze, die das Monster getötet hatten, das zuvor noch der Earl gewesen war. Der eine Blitz, der auf mich zugekommen war, die Schmerzen und das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden.

      Unwillkürlich fuhr ich mit meiner Hand zu meinen Augen und betastete sie. Als ich den Finger vor mein Gesicht hielt, glänzte er blutrot. Geschockt und verwirrt sah ich mich aus meiner halb liegenden Position weiter um. Ich befand mich in einem riesigen Raum, dessen Decken ich ebenso wie die Wände nur schemenhaft erkennen konnte. Einige Schritte von mir entfernt waberte der Nebel um vier Gestalten, die im aufsteigenden Dunst ebenfalls nicht richtig zu sehen waren.

      Noch immer wackelig setzte ich mich richtig auf und