Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1). Judith Kilnar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Kilnar
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Год издания: 0
isbn: 9783964640017
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bereit zu sterben, um all dieser Folter ein Ende zu bereiten. Hoffend auf Erlösung schaute sie ihrem Spiegelbild in die Augen. Sie musste sich nicht einmal weiter anstrengen, ihre Gefühle waren ohnehin aufgewirbelt, chaotisch und unkontrolliert. Sie hatte sich nie in den Griff bekommen, hatte immer die Kontrolle über sich und ihre Gefühle verloren. Zu viele hatten für ihre Fehler bezahlen müssen, und nun hatte sie keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen.

      Die junge Frau lehnte sich noch weiter vor. Ihre Nasenspitze berührte fast den Spiegel. Sie sah sich selbst ein letztes Mal in die Augen, die schon so häufig Aufmerksamkeit erregt hatten, und überließ ihrem inneren Feuer die Oberhand. Erneut wurden die Augen kalt und starr, der strahlende Flammenblitz schoss hervor. Er prallte auf den Spiegel, hinterließ einen schwarzen Brandfleck und die Flamme züngelte zurück, drang in sich selbst ein, in den Körper der jungen Frau, und zerstörte sie. Scheinbar leblos sackte sie am Boden zusammen, angegriffen von ihren eigenen Augen, und verschwand.

      Augenschöne

      das Augenschön; die Augenschöne (f); der Augenschöne (m)

      Bezeichnung für einen Menschen, der innerhalb seiner ersten sieben Lebensjahre von einem Gott cyniert wird, dem somit dessen Gene zugefügt werden, sodass er zu einem Schleifenwesen wird mit der Fähigkeit zu magizieren. Durch die Augen kann er Gebrauch von dieser Fähigkeit machen, durch die Cynierung wird ihm traumhafte Schönheit zugeteilt. Augenschöne gibt es in jeder Zeit, in jedem Jahrhundert, bis sie in die Inneren Schleifen überwechseln.

       Kapitel 1

      Südosten Englands, 1603

      »Darf ich Euch daran erinnern, Mylady, dass in einer Dreiviertelstunde der Besuch eintreffen wird?«, tadelte mich eine ungeduldige Stimme.

      Die Worte der groß gewachsenen Frau, die neben meinem Bett stand, wischten die letzten verschwommenen Spuren des Schlafes aus meinen Augen.

      »W-was? Bereits so bald?«, stieß ich entsetzt hervor und schwang meine Beine über die Kante des Himmelbetts. »Weshalb teilt Ihr mir das erst jetzt mit? Rasch, helft mir doch!«

      Ich hielt mitten in meinen Bemühungen, mir das weiße Nachthemd über den Kopf zu ziehen, inne und sah Mrs Murphy, die mir vorübergehend als Zofe zur Verfügung stand, anklagend an.

      Sie eilte sofort herbei, um mir zu helfen. »Natürlich, Mylady.«

      Schnell befreite sie mich aus meinem Nachthemd.

      »Welche Uhrzeit haben wir denn?«, keuchte ich, während ich anfing, mir mit dem Wasser aus der Waschschüssel hastig die Arme zu reinigen. Meine Haut kribbelte, denn es war eiskalt. War ich denn so spät dran, dass nicht einmal genug Zeit war, mein Waschwasser aufzuheizen?

      »Gleich halb fünf«, antwortete Mrs Murphy und nickte zu der bronzenen Wanduhr. »Die ersten Gäste haben sich für die nächste halbe Stunde angekündigt.«

      Sie stellte die Waschschüssel weg und half mir in die Unterkleider. Am heutigen Tage waren es zwei, da das winterliche Wetter nichts anderes zuließ.

      Meine Zofe bugsierte mich zum Kleiderschrank und holte mein neues Überkleid heraus. Die Schneiderin hatte es erst vor zwei Tagen fertiggestellt und ich war sehr zufrieden. Durch den goldenen Stoff zogen sich Muster aus eingestickten Blumen, die in kreiselnden Spiralen den Samtstoff luftiger wirken ließen. Meine Seidenärmel schienen bei jeder Bewegung in der Luft zu schweben.

      Als Nächstes nahm sich Mrs Murphy meine hüftlangen, silberblonden Locken vor und legte sie in einem geflochtenen Kranz um meinen Hinterkopf. Nachdem meine Wangen gepudert und die Ohrringe eingehängt waren, legte sie mir die Halskette um, während ich in meine Schuhe schlüpfte.

      Mit klappernden Absätzen verließ ich eilig mein Zimmer und Mrs Murphy folgte mir wie ein Schatten. Über mehrere Flure und Treppen gelangten wir in die Eingangshalle.

      Mrs Murphy knickste vor meinen Eltern, dem Duke und der Duchess de Mintrus, und nickte auch meinen beiden älteren Schwestern Florence und Evelyna zu, bevor sie sich an die Wand neben die anderen Bediensteten zurückzog.

      Ich eilte nervös neben meine Schwestern, und wartete darauf, dass ich Schelte bekommen würde. Doch außer, dass mein Vater mir einen Blick unter seinen buschig zusammengezogenen Augenbrauen zuwarf, sagte niemand etwas. Glück gehabt!

      Ich wagte einen Seitenblick auf meine beiden Schwestern. Florence, die Ältere, lächelte mich aufmunternd an und Evie – Evelyna, wurde sie nur genannt, wenn unsere Eltern verärgert waren – zwinkerte mir neckisch zu. Doch noch rechtzeitig, sollte das vermutlich heißen.

      Wie lange sie wohl schon hier stand?

      Meine Überlegung wurde durch ein lautes Klopfen unterbrochen.

      Mein Vater winkte kurz mit seiner Hand und zwei der Diener öffneten das schwere Eichentor. Auf den marmornen Stufen davor stand eine ältere Frau mit grauen Haaren, die in einer komplizierten Hochsteckfrisur um ihren Kopf verteilt waren. Sie trug ein elegantes oranges Kleid und auf ihrem Busen, der aus dem Dekolleté zu quellen schien, thronte eine reich verzierte Goldkette. Neben ihr stand ein glatzköpfiger Mann mit weißem Schnauzbart und einem faltigen Gesicht, der mindestens einen Kopf kleiner war als die Frau.

      Mein Vater breitete die Arme aus und knipste ein strahlendes Lächeln an. »Mr und Mrs Hughes, was für eine Freude, Euch zu sehen!«

      »Die Freude ist ganz auf unserer Seite, mein lieber Duke«, erwiderte Mrs Hughes und gab ihr übliches, gekünsteltes Lachen von sich.

      Derweil hatte mein Vater Mr Hughes die Hand geschüttelt und ihn freundlich hereingebeten.

      »Welch ein Tag, welch ein Tag«, plapperte Mrs Hughes weiter und trat zu meiner etwas überfordert aussehenden Mutter. »Da erinnere ich meine Clarice doch gestern Abend noch, sie solle mir mein neues Kleid zurechtlegen, und was sehe ich heute Morgen? Das falsche Kleid ist herausgelegt worden und Clarice schlummert friedlich in ihrer Kammer.«

      Meine Mutter schaute verwirrt. »Wer ist …?«

      »Clarice?«, fiel ihr Mrs Hughes ins Wort. »Aber meine liebe Celine, das ist doch meine Zofe. Durchaus noch sehr jung, doch sie war die beste, die ich auftreiben konnte«, stöhnte sie theatralisch. »Sie werden immer schlechter, die Zofen, nicht wahr? Und die guten sind schon weg. Wobei Clarice eigentlich recht erzogen ist. Ein bisschen vergesslich vielleicht, aber – wer vergisst nie etwas und hat immer alles bereit und ist über alles informiert? Ach, wenn wir dabei sind, Clarice ist ein wahrer Quell, was Klatsch betrifft. Sie weiß einfach über alles Bescheid! Stellt Euch nur vor, sie hat gehört, dass die Duchess von Wederssay eine Affäre mit einem der Stallburschen gehabt haben soll.« Mrs Hughes beugte sich vertraulich zu meiner Mutter. »Es dürfte also keine Überraschung sein, dass der kleine Sohn mehr Ähnlichkeiten mit ihm aufweisen soll, als mit dem Duke, seinem angeblichen Vater …«

      Ich wandte mich ab. Immer die gleichen langweiligen Klatschgeschichten.

      Doch den nächsten Gast, den mein Vater begrüßte, hatte ich noch nie gesehen. Neugierig musterte ich ihn. Es war ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren und markanten Wangenknochen.

      »Ihr müsst der Earl of Holeweavers sein«, sagte mein Vater gerade und reichte dem Mann die Hand.

      Der Earl musterte meinen Vater mit hochgezogenen Augenbrauen. »Genau der bin ich«, erwiderte er kühl und ließ meinen Vater einfach stehen.

      Verdutzt schaute mein Vater ihm nach, wandte sich dann aber wieder ab, da bereits die nächsten Besucher eintrafen. Ich sah mich um. Florence und Evie plauderten mit Mr Hughes über das kalte Wetter, meine Mutter hörte immer noch der quasselnden Mrs Hughes zu, die Geschichten aus Clarice’ Gerüchteküche zum Besten gab, und mein Vater war mit den neuen Gästen beschäftigt. Nur der Earl starrte mich von der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle aus an. Es würde also fast niemand merken, wenn ich mich davonstahl.

      Ich schlich in den Flur zurück, die Treppe hinauf, vorbei an den Gemälden, die den Flur schmückten, auf mein Zimmer. Stöhnend ließ ich mich auf das Bett fallen und