Bei Miss Lessing hatte ich so einiges gelernt, also nickte ich ein drittes Mal.
»Vor deiner Zeit haben viele Menschen gelebt und sind gestorben. Und auch nach deiner Zeit werden viele Menschen leben und sterben. Nun stell dir vor, man könnte durch die Zeit reisen. In die Vergangenheit wie auch in die Zukunft. Um ein paar Tage, ein paar Jahre, ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende. Stell dir vor, das würde so funktionieren, dass man in Zeitschleifen steigt, die dich in eine andere Zeit bringen können. Diese Schleifen sind Orte, die man von außen, der gewöhnlichen Zeit, nicht wahrnehmen kann. Diese Schleifen sehen unterschiedlich aus, jede anders und mit ihren eigenen angepassten Bewohnern. Wo wir uns befinden, ist die dritte Schleife. Wir stecken zwischen der richtigen Zeit fest. Man könnte es so sagen, dass gerade in den Äußeren Schleifen, der zeitlich gesteuerten Welt, alles passiert, bereits passiert ist und alles noch passieren wird.«
Ich starrte Tatjana an. Nur langsam sickerten ihre verwirrenden Worte und die darin enthaltenen Informationen in meinen Kopf. Die einzige Frage, die über all dem schwebte, war allerdings eine andere.
»Was habe ich mit all dem zu tun?«
Tatjana schmunzelte.
»Diese Zeitschleifen gibt es eigentlich schon immer. Jedenfalls seit die Erde existiert – das nehmen wir zumindest an. Und was es auch schon von jeher gab, war die Natur, mit all ihren Inhalten. Inklusive Himmel, Mond, Sonne und Sternen. Es gab auch schon seit Anbeginn der Zeit diejenigen, die diese Dinge innehatten. Im alten Griechenland oder in Rom hat man an viele Götter geglaubt. Besondere, mächtige Götter, die eine oder mehrere Aufgaben haben, die sie erfüllen müssen. Diese Götter – in gewisser Weise gibt es sie wirklich. Doch nicht nach der herkömmlichen Vorstellung, dass sie wie ein Mensch aussehen, meine ich. Sie bestehen stattdessen aus den Dingen, dessen Herr sie sind. Den Dingen, die sie repräsentieren. Es gibt zum Beispiel den Gott der Weisheit. Er ist überall dort, wo Weisheit herrscht, auf der ganzen Welt, durch die Zeit verteilt. Dann gibt es noch solche Götter, wie den Gott des Mondes. Er besteht nur aus dem Mond, der um die Erde kreist. Allerdings ist er ebenfalls dort anwesend, wo an ihn gedacht wird. Von Göttern gibt es Milliarden. Götter, die Gegenstände, Dinge, Gase, Flüssigkeiten, Gerüche und so viel mehr verkörpern. Götter, die Herrscher über ein Gefühl sind. Vielleicht kennst du ja ein paar alte Mythen über Götter?«
Wieder konnte ich guten Gewissens nicken.
»Fast immer spielen auch ihre Kinder eine große Rolle. Hier gehen Wirklichkeit und Mythos jedoch stark auseinander. Die wahren Götter können keine Kinder bekommen. Das überlassen sie den Menschen. Allerdings fügen sie ausgewählten Kindern ihre Gene ein. Diesen Prozess nennt man Cynierung. Die eingefügten Gene enthalten aber nicht das Aussehen des göttlichen Elternteils, sonst würden sich manche ihrer Kinder entmaterialisieren. Es sind nur die Kräfte des Gottes in einer abgewandelten Form. Die Kinder verändern sich auch nicht sehr. Sie unterscheiden sich von normalen Menschen lediglich durch die innere Magie und ein fortwährend tadelloses Aussehen, das sie nahezu perfekt erscheinen lässt. Nur ein Teil ihres Körpers verkündet deutlich, wer ihr göttlicher Elternteil ist.«
»Die Augen«, flüsterte ich rau. Endlich begriff ich. Tatjana, Mr Honk, Elvon und dieser Atlas waren Götterkinder. Tatjana hatte sie vorhin Augenschöne genannt … und ich war eine von ihnen.
»Genau, die Augen. Sie sind auch der Schlüssel zur Nutzung der Magie, die einem mit den Genen zugefügt wurde. Bei guter Übung und hartem Training kann man lernen, diese Kraft zu steuern. Sie den eigenen Willen erfüllen lassen. Das ist jedoch wie gesagt harte und schwere Arbeit.«
Ich beobachtete Tatjana, die gedankenverloren in den Nebel starrte.
Irgendwann schüttelte sie ihren Kopf und sprach weiter. »Die Magie tritt entweder durch gezielte, kontrollierte Steuerung des Willens aus oder durch sehr starke Gefühle. Hast du schon einmal die Redewendung gehört, in den Augen könne man die Gefühle der Menschen erkennen? Diese Redewendung kommt von uns. Bei großen, heftigen Gefühlsausbrüchen, die wir wie Wutausbrüche nicht wirklich kontrollieren können, tritt die Magie unaufgefordert und von selbst aus den Augen heraus.«
»Wodurch ich meine Schwester getötet habe«, flüsterte ich und meine Augen füllten sich erneut mit Tränen.
»Wie ich schon sagte, du konntest nichts dafür. Du hast noch nicht gelernt deine Kräfte zu kontrollieren.« Tatjana drückte mitfühlend meine Hand. »Viele von uns haben liebe Menschen auf diese Weise verloren in unserem früheren Leben in den Äußeren Schleifen. Irgendwann aber kommen wir hierher. Entweder während wir etwas ganz Normales machen, wie essen, schlafen … oder wenn wir als normale Menschen sterben würden, weil wir beispielsweise ertrinken oder erschossen werden. Selten passiert es auch, dass man durch einen heftigen Gefühlsausbruch hierher geschleudert wird, so wie du. Bei den meisten passiert das im Alter von fünfzehn bis fünfundzwanzig. Es gibt jedoch ein paar Ausnahmen, wie Elvon und mich, wir sind ein paar der Älteren. Der Jüngste bei uns ist dreizehn. Leider, denn wenn man in die Inneren Schleifen kommt, wird man nicht mehr älter.«
»I-ich bleibe für immer siebzehn?«, fragte ich schockiert.
»Ja, du wirst ab jetzt nicht mehr altern. Niemand von den zweihundert Augenschönen tut das«, antwortete Tatjana und zwirbelte zerstreut an einer ihrer Haarsträhnen.
Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie, bis auf die seltsame Kleidung, eigentlich ganz hübsch aussah. Ihre glatten braunen Haare trug sie in einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre Haut hatte einen leichten Olivstich, zu dem ihre grauen Augen wunderbar passten. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig. Doch wenn man hier nicht alterte, wie alt war sie dann wirklich?
»Übrigens wohnen alle Augenschönen in der vierten Schleife«, unterbrach sie meine Gedanken. »Dort wirst du ebenfalls hinkommen, wenn ich dir alles erklärt und gezeigt habe. Wir leben dort zusammen und trainieren. Nicht nur, um die Kraft unserer Augen zu kontrollieren, sondern auch, um zu kämpfen.«
»Auch die Mädchen?«
»Auch die Mädchen. Kämpfen müssen wir alle lernen, da wir einen immerwährenden Krieg gegen die Nächtlichen Geschöpfe führen. Das sind schreckliche Monster, die danach trachten, uns auszulöschen. Du bist einem von ihnen in deiner Zeit begegnet. Sie leben ebenfalls in den Schleifen, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, sie zu bekämpfen. Zum einen, um unser eigenes Leben zu schützen. Zum anderen aber auch, um die Zeit zu retten, denn die Nächtlichen Geschöpfe versuchen, Herr über Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit zu werden. Doch dazu später mehr. Jetzt rüsten wir dich erst einmal für dein neues Leben. Äußerlich sowie innerlich. Wir beginnen genau hier.«
Tatjana holte ein kleines gläsernes Fläschchen mit einer milchig trüben Flüssigkeit aus ihrem Mantel und ging in die Hocke. Sie machte eine kreisende Handbewegung in der Luft. Der Nebel ballte sich zusammen und schoss in das Fläschchen. Als es sich vollständig gefüllt hatte, schloss Tatjana den Deckel und richtete sich auf. Sie reichte mir das Gefäß, in dem der Nebel über der Flüssigkeit herumwirbelte. Ich nahm es vorsichtig in die Hand und betrachtete die weißgrauen Schlieren darin.
»Wie ich bereits sagte, der Nebel ist magisch. Bei uns nennt man ihn den Nebel der Erkenntnis. Erkenntnis hat immer etwas mit Worten zu tun, deshalb gehört das auch zur Magie des Nebels. Öffne den Deckel vom Fläschchen und halte es dir vor Mund und Nase. Atme den Nebel ganz tief ein und nimm die Magie darin in dich auf. Der Nebel wird dir alle Geheimnisse und Entwicklungen der Sprache mitteilen, sodass du auch die Worte verstehen kannst, die mehrere hundert Jahre nach deiner Geburt in deiner Sprache verwendet werden«, erläuterte mir Tatjana. »Da du ihn schon eine Weile eingeatmet hattest, bevor wir dich fanden, konntest du dich schon etwas unserer Sprache anpassen. Durch die Substanz in dem Fläschchen wird er extrem verstärkt. Wenn du das Gemisch jetzt einatmest und die ganze Magie des Nebels in dir hast, wirst du alles darüber wissen.«
Ich betrachtete den Nebel in dem Fläschchen. Magisch? Vorsichtig drehte ich an dem Verschluss und hielt es mir vor den Mund. Als ich den Deckel abnahm, holte ich tief Luft und sog den Nebel in meine Lungen. Geschockt torkelte ich, denn eine Flut von Gedanken drohte mich zu ersticken. Es fühlte sich an, als würde jemand