Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1). Judith Kilnar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Kilnar
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Год издания: 0
isbn: 9783964640017
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sie, nachdem sie aus der Hölle emporgestiegen waren, wo sie dem Teufel dienten, um Sünder in die qualvollen Tiefen zu ihresgleichen zu ziehen. Am schlimmsten würde es die Hexen und Magier treffen, die versteckt in der Menschenwelt lebten und die Leute in ihrer Umgebung verfluchten. Später hatte sich herausgestellt, dass die Zofe in mir eine Hexe vermutet und mir die Geschichte erzählt hatte, um mich von meinen finsteren Zaubereien abzuhalten, von denen sie annahm, dass ich sie mit der Kraft meiner goldenen Augen zelebrierte. Wie so viele war sie keinen Monat geblieben und ich hatte wieder eine neue Dienerin gebraucht.

      Ich wich drei Schritte zurück. Wenn Tatjana mir dieselbe Frage wie der Dämon stellte, dann waren sie und die anderen womöglich auch welche? Vorsichtig sah ich mich um auf der Suche nach einer Tür, einem Ausgang, der mich retten konnte. Doch dieser Raum schien keinen Anfang und kein Ende zu haben, keine Wände und Decken. Es gab nur den kalten Marmorboden und den allgegenwärtigen Nebel.

      »Du hast keine andere Möglichkeit, außer unsere Frage zu beantworten. Ohne Hilfe findest du hier nicht hinaus.« Es war die Stimme des jungen Mannes, der zuvor »Schön wär's« gesagt hatte.

      »Ruhe«, wies Tatjana ihn zurecht und trat mit halb ausgestreckter Hand einen Schritt auf mich zu, den ich mit erneutem Zurückweichen ausglich.

      »Bitte, Lucy, es ist wichtig, dass wir eine Antwort von dir bekommen.«

      »Weshalb?« Meine Stimme zitterte leicht. »Geht das Umbringen so schneller?«

      Tatjana wirkte irritiert und sah hilfesuchend zu Mr Honk und Elvon, die allerdings genauso verwirrt wirkten. Da trat der jüngere Mann vor und sah mich aufmerksam an. Mein Herz begann, schneller zu klopfen.

      »Ist dir denn bereits jemand begegnet, der vorhatte, dich umzubringen?«

      Tatjana sah ihn fragend an, bevor sich langsames Verstehen auf ihrem Gesicht ausbreitete.

      Ich verstand immer noch nichts. Misstrauisch beäugte ich ihn, bis ich rot wurde und den Blick senkte. »Ja … einmal«, flüsterte ich, »gerade eben erst. Es war der Earl of Holeweavers. Ein seltsamer Mann. Das heißt, er war einer, bevor er sich plötzlich in ein Monster verwandelt hat. Ein seltsames hundeköpfiges Schlangenhuhn. Er wollte mich töten.«

      Tatjana sog scharf die Luft ein und der Mann mit den türkisblauen Augen trat zurück in den dichteren Nebel.

      »Um eines klarzustellen, Lucy, wir wollen dich nicht töten.« Die Frau kam abermals näher.

      Ich blieb abwartend stehen.

      »Genau genommen wollen wir dir helfen. Über dieses Monster sollten wir uns später noch unterhalten, doch erst einmal solltest du unsere Frage beantworten. Lucy, wie viele Menschen hast du umgebracht?«

      »Mit deinen Augen«, ergänzte Mr Honk.

      »Mit meinen Augen? Ich …« Meine Stimme versagte. »Meint Ihr damit, dass sie … anfangen zu brennen? Zu leuchten? Strahlen zu erzeugen und goldene Blitze um sich zu werfen?«

      »So in etwa, ja. Nur die Blitze … sind … sind außergewöhnlich.«

      Ich schauderte und wich den erwartungsvollen Blicken der vier aus. Sollte ich ihnen tatsächlich von Evie erzählen? Was würden sie dann mit mir machen? Und woher wussten sie überhaupt, dass ich jemanden umgebracht hatte?

      Ich schluckte schwer. »I-ich habe …«, setzte ich an und fuhr zitternd fort, »… nur eine Person getötet. Und es war ein … ein Versehen.« Ich musste ihnen nicht die ganze Geschichte sofort erzählen, richtig? Dass es meine Schwester gewesen war?

      Evie … bei dem Gedanken traten mir Tränen in die Augen und ich musste heftig schlucken, um nicht zu weinen.

      Die vier musterten mich gleichermaßen skeptisch und Tatjana fragte vorsichtshalber nach. »Nur eine?«

      Auf einmal wurde ich wütend und ich funkelte Tatjana an. »Was glaubt Ihr denn, wie viele ich ermordet habe? Zehn? Fünfzig? Vielleicht auch hundert? Habt Ihr das erwartet?«

      Tatjana blickte betreten zur Seite und auch die Mimik der beiden Männer sprach Bände. Ich hatte ins Schwarze getroffen. Verletzt zerknüllte ich den zerrissenen Samtstoff meines Kleides in den Händen und starrte zornig zu Boden.

      Nun passierten so viele Dinge so schnell hintereinander, dass ich ihnen fast nicht folgen konnte.

      Der junge Mann lachte leise, und der höhnische Ton machte mich noch wütender.

      In meine Augen kehrte das wilde Brennen zurück, zwei goldene Blitze schossen daraus hervor, ein ohrenbetäubendes Krachen hallte in meinen Ohren und ich wurde ruckartig zurückgeschleudert. Mein Kopf schlug hart auf den Boden auf, durch meine Schultern ging ein Ruck und ein leiser Schrei entfuhr mir. Stöhnend richtete ich mich auf, musste husten von der Rauchwand, die sich langsam von der Stelle entfernte, an der ich bis vor einem Augenblick noch gestanden hatte. Dahinter erkannte ich, wie Tatjana, Mr Honk, Elvon und der Jüngere händewedelnd versuchten, aus dem Aschegrau aufzutauchen.

      Ich torkelte ein paar Schritte, bevor ich sicher stand und den Boden entsetzt betrachtete. Einen halben Meter vor mir, wo die goldenen Blitze eingeschlagen waren, zog sich ein breiter Riss durch den Marmorboden, aus dem feiner Rauch emporstieg. War das etwa ich gewesen? Mit meinen Augen?

      »Verzeihung«, brachte ich stockend hervor. »Das war keine Absicht.«

      Rechtfertigte ich mich tatsächlich für das Zerspalten eines Marmorbodens?

      »Es tut uns leid, dass wir dich … aufgeregt haben« Mr Honk lächelte leicht. »Könntest du dennoch versuchen, unsere Halle der Erkenntnis nicht noch weiter zu zerstören?«

      »So eine starke Kraft und nur ein großer Ausraster?«, hörte ich Elvon murmeln und seine Worte jagten mir einen eisigen Schauer über den Rücken.

      »Du sagtest, du hast mit deiner Familie und eurer Dienerschaft zusammengelebt«, führte Tatjana ihre Befragung fort. »Hattest du häufig Kontakt zu anderen Leuten?«

      »Ich … ja, aber ich war nie sonderlich willkommen bei Fremden«, gab ich zu. »Meine Andersartigkeit war schon immer abstoßend. Besucher kommen natürlich trotzdem zu uns. Ich versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen, auf meinem Zimmer zu bleiben. Besuchen wir jemanden, genieße ich lieber das Alleinsein im Garten oder, falls möglich, die Abgeschiedenheit in der Kutsche. Das … ist mir lieber als die geheuchelte Freundlichkeit der Leute, die damit ihre Abscheu verbergen wollen.«

      Tatjana warf Elvon einen Blick zu, als wäre in meiner Erzählung die Antwort auf seine vorige Frage zu finden. Sie richtete ihre klugen grauen Augen abermals auf mich. »Wie war dein Verhältnis zu den Menschen auf dem Anwesen? Standen sie dir nahe? Nicht nur deine Familie, auch die Bediensteten?«

      Ich wusste nicht, welchem Zweck ihre Frage diente, antwortete aber weiterhin bereitwillig.

      »Mit meinen älteren Schwestern verstehe ich mich vorzüglich. Vor allem …«, meine Kehle wurde trocken und ich musste schlucken. »Vor allem mit der jüngeren der beiden. Sie stand mir sehr nahe. Meine Eltern liebe ich ebenso. Mein Vater ist am besten für lange Unterhaltungen zu haben, ich habe viel von ihm gelernt. Meine Mutter … ich fürchte, ich bin ihr etwas unheimlich, deshalb vermeide ich es, mit ihr länger allein zu sein. Doch obwohl sie mich anders sieht, hat sie ein gutes Herz und ich weiß das auch.« Wieder musste ich schlucken, und diesmal dauerte es einen Augenblick, bis ich weitersprechen konnte.

      »Meine Zofe ist noch neu bei uns, allerdings nehme ich nicht an, dass sie länger bleibt als die anderen. Sie haben sich bisher alle vor mir gefürchtet. Aber mit meiner Lehrerin Miss Lessing verstehe ich mich blendend. Bei unserer übrigen Dienerschaft … nun ich kenne nur unseren neuen Koch Monloe. Er ist ein leidenschaftlicher Märchenerzähler. Ach, und dann ist da noch Stefan, unser Kutscher, mit dem ich mich unterhalte, wenn wir zu einem auswärtigen Besuch mit ihm aufbrechen. Er ist allerdings recht schüchtern. Alle anderen kenne ich höchstens vom Sehen. Sie sind eben Bedienstete. Das kennt Ihr doch gewiss.«

      Als ich Tatjanas Gesichtsausdruck bemerkte, war ich mir da nicht mehr so sicher. Sie wirkte eigentlich nicht wie jemand, der mit einer Dienerschaft