Evie zuckte die Achseln. »Mir ist gar nichts bei ihm aufgefallen. Vielleicht haben dich deine Augen ja getrogen?« Plötzlich kicherte sie. »Ich finde ihn übrigens gar nicht so übel und wäre dir sehr gern bei der Suche nach einem Brautgewand behilflich. Welches Stoffmuster wünschst du dir denn?« Sie prustete los.
»Herrgott, Evie!«, fluchte ich und fixierte sie zornig. Heute war wirklich ein schlimmer Tag.
Sie kringelte sich jedoch vor Lachen und nahm die ganze Sache nun nicht mehr ernst.
Ich wurde immer wütender. Nicht nur auf Evie, sondern auch auf den Earl und dieses unerträgliche Fest.
Ein Schmerz durchzuckte meine Augen, so wie vorhin am Buffet, nur viel stärker. Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. »Autsch!«
Evie verstummte sofort. »Lucy?«, fragte sie besorgt und legte ihre Hände auf meine. »Luce, was ist los?«
Ich stöhnte gequält auf. »Meine … meine Augen, sie brennen so fürchterlich.«
Evie sog scharf die Luft ein. »Hast du dir ins Auge gefasst? Oder Staub hineinbekommen?«
»Nein.« Ich krümmte mich zusammen, die Hände immer noch auf meinen Augen. »Es … es kommt irgendwie von innen.«
Evie zog mich hoch. »Ganz langsam, Lucy, alles wird gut werden«, murmelte sie beruhigend, doch ihre Stimme zitterte. »Nimm deine Hände bitte für einen Augenblick von den Augen. Ich bin zwar nicht der Medicus, vielleicht erkenne ich aber trotzdem, woher die Schmerzen kommen, die dich plagen.«
Ich nahm langsam die Hände vom Gesicht und öffnete die schmerzenden Augen.
»Was …?«, schrie Evie auf.
»Evie!« Jetzt packte ich ihre Schultern. »Was hast du?« Doch im selben Moment erstarrte auch ich. Der Raum wurde von einem hellen goldenen Licht erleuchtet, das von meinen brennenden Augen zu kommen schien. Ich sah Evies aufgerissene Augen vor mir. Sie starrte mich an. Ich starrte zurück und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Ein goldener Strahl aus meinen Augen schoss in ihre, und ließ die Luft vor Hitze flimmern. Keine Sekunde später fiel Evie zu Boden.
Der dumpfe Aufprall ihres leblosen Körpers holte mich aus meiner Starre. Das Leuchten zog sich in meine Augen zurück, verschwand aber nicht ganz, sondern ließ sie weiterhin im Halbdunkeln glühen.
Was ging hier nur vor sich?
Ich ließ mich neben meine Schwester in den Staub fallen. »Evie …«, flüsterte ich entsetzt und rüttelte leicht an ihren Schultern. Meine brennenden Augen waren vergessen, jetzt zählte nur noch Evie. Was war mit ihr passiert? Was hatte dieser goldene Strahl mit ihr gemacht? Panisch drehte ich sie auf den Rücken und legte meine Hand dorthin, wo ich ihr Herz vermutete. Nichts. Ich hob mein Ohr über ihren Mund und ihre Nase und lauschte auf ihren Atem. Auch nichts.
»Nein! Nein!!!«, schluchzte ich. Tränen traten mir in die Augen, aber ich spürte, wie sie in der Hitze des goldenen Glimmens einfach verdampften.
Das konnte nicht sein! Nein, Evie war nicht tot. Sie konnte es einfach nicht sein!
Aus den Lexika der Augenschönen
(Band 1, Kapitel 5)
Die Augen eines Augenschönen sind von dem Moment der Cynierung an bereit, Magizismen auszuführen. Willentlich wurde dies vor der Ersten Fahrt (siehe Kapitel 6) bisher noch nicht geschafft, lediglich die Gefühlsausbrüche eines Augenschön in den Äußeren Schleifen können Magizismen verursachen, welche dann besonders stark ausfallen und häufig mit dem Tod einer oder mehrerer Personen enden.
Wenn die Augen zum ersten Mal einen Magizismus produzieren, ist das für das Augenschön sehr schmerzhaft. In den meisten Fällen kommt es sogar zu Blutungen der Augen, da diese die große Kraft nicht gewohnt sind. Bei den später folgenden Magizismen sind die Augen bereits auf die Ballung der Magie eingestellt und mit steigender Häufigkeit sinkt die Anzahl der Nebenwirkungen.
Aus dem Bericht:
Der erste Magizismus von E. Shepden
Kapitel 2
»Evie!« Ich wusste, dass es sinnlos war, doch ich redete weiter auf sie ein. »Evie, alles wird gut werden. Bewahre deine Kräfte noch kurz. Ich werde dich zum Medicus bringen.«
Ich mühte mich, sie hochzuheben, und legte ihren Arm um meine Schulter. Unter ihrem schweren Gewicht keuchte ich leise und wankte zwei Schritte vor zur Tür. Ich drückte die quietschende Klinke herunter und taumelte in den Gang. Bei der nächstbesten Tür, die aus den Dienstbotengängen hinausführte, hielt ich an und drückte sie ebenfalls auf. Ich zog Evie hinter mir hinaus auf den Flur und sah mich um.
Wir waren in einem der Spiegelgänge gelandet, die sich durch das gesamte Schloss zogen. Ich schaute den Gang entlang und suchte nach Hinweisen, wo wir uns genau befanden. Vor lauter Angst hatte ich nicht auf den Weg geachtet und war vollkommen orientierungslos. Mein Blick blieb an einem der großen Spiegel hängen.
Ich ließ Evie sanft zu Boden gleiten und trat auf die gegenüberliegende verspiegelte Wand zu. Ich sah zwei Mädchen. Eines auf dem Boden hinter mir und eines, das mich entsetzt anstarrte.
Aber das konnten nicht Evie und ich sein, denn die Kleider der Mädchen waren an einigen Stellen zerrissen und schmutzig. Über die Gesichter und die Arme waren Rußspuren verteilt, als hätten sie sich in einem Kamin gewälzt. Rote Striemen und Kratzer zogen sich über die Haut. Doch das Verrückteste war das goldene Leuchten.
Ich trat noch näher an den Spiegel und musterte mein Gegenüber, das wohl ich sein musste. Meine Augen bestanden aus einem goldsilbernen, tanzenden Feuer. Die Flammen leckten an meinen Pupillen und an den äußeren Rändern der Iris, als wollten sie alles verbrennen. Sie leuchteten heller als Kerzenschein und warfen glitzernde Punkte an die Spiegelränder.
Ich hatte meine Augen schon oft im Spiegel betrachtet, um besser verstehen zu können, was alle anderen daran so abstieß. Sie waren schon immer ungewöhnlich gewesen, mit ihrer intensiven goldenen Farbe und dem leichten Glitzern, besonders wenn ich sie bei Sonnenschein betrachtete. Doch so ein Leuchten wie jetzt hatte es noch nie gegeben.
»Interessant, nicht wahr?«, vernahm ich eine hohe kalte Stimme.
Ich fuhr herum und hätte am liebsten laut geschrien. Es war der Earl. Er stand etwa vier Meter von mir entfernt und lächelte mich kühl an.
»Was … was wollt Ihr?«, stotterte ich unsicher.
Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Sein Blick wanderte zu Evie.
Ich stellte mich schnell schützend vor sie und versuchte, ruhig zu bleiben.
»Diesmal musste also die eigene Schwester dran glauben.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, ohne den Blick von ihr zu lösen. »Wer war es davor?«
»Was meint Ihr mit davor?«, fragte ich und wich ängstlich einen Schritt in den Gang zurück. Es behagte mir überhaupt nicht, Evie allein auf dem Boden zwischen mir und diesem Mann liegen zu sehen, der mir Angst machte.
»Ach Engelchen«, sagte er gespielt entrüstet, »ich weiß doch ohnehin alles. Mit siebzehn begeht kein Augenschön seinen ersten Mord.«
»M-mord?« Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was er gesagt hatte, doch dieses Wort schon. Stimmte das, was er sagte? Hatte ich meine eigene Schwester ermordet?
Der Mann schaute wieder zu mir auf. Kurze Verunsicherung huschte über sein Gesicht, dann war es erneut unbewegt und ausdruckslos.
»Ja, meine Süße, Mord. Du hast dein hübsches Schwesterchen getötet, so wie all die anderen, die du mit deinen Augen ausgebrannt hast.«
Mit meinen Augen ausgebrannt? Was schwafelte dieser seltsame Earl da nur?
»Ich habe noch nie jemanden ausgebrannt«, widersprach