Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1). Judith Kilnar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Kilnar
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Год издания: 0
isbn: 9783964640017
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hauptsächlich in den Dienstbotengängen und sind eigentlich wie Geister. Man bemerkt sie gar nicht und sieht nur das Resultat ihrer verrichteten Dienste. Das gemachte Bett, der gefegte Hof …«

      »Dann verstehst du dich mit allen Leuten, mit denen du am häufigsten zu tun hast, gut?«, vergewisserte sich die Frau.

      Ich nickte.

      »Und wer war die Person, die du versehentlich umgebracht hast?«

      Ich zuckte zusammen. Einen Moment überlegte ich, auf die Frage, von der ich gehofft hatte, sie würde sie nicht stellen, keine Antwort zu geben. Doch ich riss mich zusammen. »Wie gesagt, es war … es war ein Unfall! So wie der Riss im Marmorboden. Ich wollte das alles nicht, ich hatte keine Ahnung, was ich da tat …«, brach es aus mir heraus, und während ich mich zwang, weiterzusprechen, schaute ich auf meine Schuhspitzen, als würden dort plötzlich interessante, kleine rote Blumen wachsen. »Die Person … war meine … meine Schwester.« Ich stockte. »Evie. Sie war immer für mich da. Und ich? Ich habe sie getötet!«, stieß ich voller Selbsthass hervor.

      Tatjana zögerte kurz, bevor sie den Meter, der uns trennte, mit zwei schnellen Schritten überbrückte und mich tröstend in den Arm nahm. Ich schluchzte auf und lehnte mich erschöpft gegen ihre Schulter.

      »Das war aber nicht deine Schuld«, murmelte sie beruhigend, während ihre warme Hand über meinen Rücken strich. Schließlich nahm sie ihren Arm weg und brachte wieder Abstand zwischen uns, um mich weiter zu befragen.

      »Was ist danach passiert? Wie haben deine Eltern ihren Tod aufgenommen? Übrigens kannst du gern du zu mir sagen.«

      Ich räusperte mich, um den weinerlichen Klang aus meiner Stimme zu vertreiben und ihr normal antworten zu können. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Das Ganze … ist erst gerade passiert, bevor ich … gestorben bin?«

      Tatjana verschränkte grüblerisch die Arme vor der Brust. »Wie wäre es damit, Lucy? Bevor du uns mit deinen Antworten nur noch weitere Fragen in den Kopf scheuchst, erzählst du uns die ganze Geschichte. Von deiner Schwester, dem Licht aus deinen Augen, dem … Monster und, wie du glaubst, hierhergekommen zu sein. Und für dich zum Verständnis: Du bist nicht gestorben!«

      Ich wusste nicht, ob ich über ihre Mitteilung erleichtert sein sollte oder nicht. Also beschloss ich, die Entscheidung auf später zu verschieben, holte tief Luft und begann mit einer detailreichen Schilderung des vergangenen Abends. Dabei verschränkte ich die Finger ineinander, was ich immer tat, wenn ich mich zu konzentrieren versuchte.

      Ich erzählte ihnen von den Besuchern, die zu unserem Fest gekommen waren und unter denen sich der Earl befunden hatte, gekleidet in seinen langen Mantel, der so gar nicht zu den sommerlichen Temperaturen gepasst hatte. Ich verschwieg auch nicht die Schmerzen, das Brennen meiner Augen und wie Evie mir hatte helfen wollen, bevor ich erstarrt war und der Strahl aus meinen Augen in sie eingedrungen war. Wie ich sie dann auf den Gang geschleppt hatte und dort dem schwarzäugigen Mann begegnet war. Auch von seiner unheimlichen Verwandlung berichtete ich, und dass ich Evie hatte zurücklassen müssen, um vor dem Monster zu fliehen.

      Als ich die Goldblitze erwähnte, sah ich wie Tatjana Mr Honk zunickte. Doch bei der Schilderung, wie die Blitze von den Spiegeln abgeprallt waren und einer schließlich das Monster getroffen hatte, das daraufhin zu Staub zerfallen war, fühlte ich erneut ihre Blicke auf mir. Ich endete mit dem Strahl, der mir in die Augen geschossen war und wie ich geglaubt hatte, innerlich zerrissen zu werden und mit blutenden Augen zu sterben. Als ich endlich fertig war, herrschte einen Augenblick lang Stille.

      »Und … bei deinem Ausbruch, was für Gefühle hattest du da?«, unterbrach schließlich Tatjana das Schweigen mit einer weiteren seltsamen Frage.

      »Ähm … ich glaube, dass ich vor allem Angst und Panik hatte, wegen des Monsters. Ich war verzweifelt wegen Evie und ziemlich verwirrt, weil aus meinen Augen dieses Leuchten und die goldenen Blitze kamen.«

      Mr Honk ergriff das Wort. »Und vor diesem einen Mal, genauer gesagt, vor heute, hast du noch nie das Leuchten aus deinen Augen schießen sehen? Noch nie ein schmerzhaftes Brennen verspürt?«

      Ich schüttelte den Kopf. »Dürfte ich nun ebenfalls Fragen stellen?« Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Wo bin ich, wenn ich nicht tot bin? Und wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir? Und … verzeiht bitte, wenn es unhöflich klingt, warum tragt Ihr eine Hose, Mylady?«

      Tatjana sah an sich herab und, als sie dann wieder aufblickte, lächelte sie mich an. »Lucy, sicherlich hast du bemerkt, dass das alles sehr kompliziert ist. Wir vier, dieser Raum und der Grund, warum du den Boden aufgespalten hast, das ist alles erst der Anfang. Wie du gerade sicherlich zu verstehen beginnst, gibt es zwischen Himmel und Erde mehr, als du geahnt hast. Wir werden versuchen, dir nach und nach alles zu erklären und dir helfen, dich bei uns einzugewöhnen. Du bist zwar nicht tot, aber das Leben, das du bisher geführt hast, kannst du nicht mehr so weiterleben. Du wirst in den Inneren Schleifen bleiben müssen.«

      »Innere Schleifen?« Geschockt starrte ich sie an. Ich verstand zwar nicht alles, was sie sagte, aber eines begriff ich: Ich würde nie wieder nach Hause zurückkehren.

      »Die Inneren Schleifen sind Zeitschleifen.« Tatjana lächelte mich mitleidig an. »Sie existieren neben und zwischen der Welt, aus der du stammst. Es ist unsere Heimat und nun auch deine, Lucy, denn du bist eine von uns. Du bist eine Augenschöne. Eine junge Göttin.«

      Wer herausfordert die Zeit,

      der führt einen verlorenen Kampf.

      (Silvana Gustani, Augenschöne, zu Lebzeiten eine Nele)

       Kapitel 4

      Ich hätte gerne etwas Schlaues geantwortet. Etwas, das darauf schließen ließ, dass ich die gesamte Situation logisch überschauen konnte. Etwas Lockeres, wie: »Ach, jetzt wo Ihr es sagt. Selbstverständlich bin ich eine junge Göttin.« Leider war das Einzige, was ich herausbrachte nur ein »Hä?«

      Tatjana wandte sich kurz an Mr Honk und Elvon. »Ich denke, ich werde Lucy einmal herumführen, die übliche Prozedur, und ihr alles erklären.«

      Mr Honk nickte und steckte zeitgleich mit Elvon seine Hand in die Tasche seiner Jacke. Ein leises Klicken ertönte, Elvon erstrahlte in lilafarbenem Licht, Mr Honk in braunem und dann … waren beide verschwunden.

      Ich starrte die Stellen, an denen sie Sekunden zuvor noch gestanden hatten, schockiert an.

      »Atlas, du kannst ebenfalls zurück in die vierte Schleife«, wandte sich Tatjana unterdessen an den verbliebenen Mann. »Egal zu welchem Auftrag man eingeteilt ist, Übung kann niemals schaden.«

      Der Jüngere, Atlas, nickte mürrisch, steckte seine Hand zurück in seine Tasche, ein Klicken ertönte, er leuchtete im Türkis seiner Augen auf und war ebenfalls verschwunden.

      Ein leises Platschen, wie von verschüttetem Wasser, hallte in der Halle nach. Was ging hier vor sich? Waren das Magier wie eben jene, von denen mir die Zofe erzählt hatte?

      Tatjana sah sich um. »Beginnen wir am besten direkt.«

      Etwas Nebel wirbelte auf, als sie neben mich trat.

      »Wie bereits erwähnt, ist das hier die Halle der Erkenntnis. Dieser Nebel ist magisch. Sein Einatmen wird dir helfen, die Dinge besser zu verstehen, mich besser zu verstehen. Doch erst einmal starten wir mit dem Ursprung all dessen.«

      Das erleichterte mich ein wenig. Wenn alles der Reihe nach ging, konnte ich besser folgen.

      »Du hast im 16. und 17. Jahrhundert gelebt, also gab es bereits Uhren. Somit ist dir Zeit ein Begriff?«

      Ich nickte.

      »Es gibt Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, richtig?«, hakte Tatjana nach.

      Ich nickte erneut.

      »Und manchmal fragt man sich, wann das alles angefangen hat. Wann war der Beginn dieser Zeit? Wann wird das Ende sein?« Sie sah mich ernst an. »Hier, wo wir sind, das sind die Zeitschleifen. Doch sie