TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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wäre besser, wenn du ein Mensch bleibst. Nur, wenn es dir nichts ausmacht, natürlich.“

      Neolyt schüttelte den Kopf und verwandelte sich wieder zurück. Daran würde sie sich noch gewöhnen müssen.

      Von einem schmalen Gang, der direkt hinter den Drachen­höhlen entlangführte, gelangten sie in einen breiteren und höheren Raum, in dem viel Trubel herrschte. Kleine, braune und mit ihrer ledrigen Haut, dem großen Kopf und dem dünnen Hals eigentlich hässlich aussehende Drachen zogen Karren oder dackelten treuäugig hinter ihren Besitzern her. Stämmige Ponys in allen Farben, mit zotteliger Mähne und einem Horn auf der Stirn trugen Säcke und Körbe auf dem Rücken. Neolyt blickte einem braungescheckten, dicken Pony neugierig hinterher.

      „Ist das ein Einhorn?“, fragte sie Deor, der sie sicherheits­halber an die Hand genommen hatte, sonst wäre sie in dem Trubel wohl verloren gegangen.

      Seufzend folgte er ihrem Blick.

      „Im weitesten Sinne des Wortes ja, aber eigentlich nicht.“

      Neolyt wollte noch mehr fragen, doch Deor zog sie weiter an kleinen, hässlichen Drachen vorbei und an Einhörnern, die eigentlich keine waren. Irgendwann gelangten sie aus den mit Holz befestigten, überfüllten Gängen in einen aus hellem Stein gehauenen Korridor, der von unzähligen Lampen erleuchtet wurde, die ein ruhiges, orangegelbes Licht verstrahlten.

      „Sind das Kerzen?“, fragte Neolyt, immer noch neugierig allem Ungewohnten gegenüber. Obwohl sie schon ein paar Mal Kerzen gesehen hatte, interessierte sie auch dies.

      „Nein, das sind kleine Flammengeister, die für diesen Zweck heraufbeschworen wurden.“

      Neolyt staunte mit großen Augen. Flammengeister, das war noch ungewohnter als Kerzen.

      „Warum nehmt ihr keine Kerzen?“, hakte sie nach, weil heraufbeschwören viel anstrengender klang als anzünden.

      „Das erkläre ich dir später. Jetzt musst du erst einmal einen guten Eindruck auf Valria machen.“ Obwohl er ihr bei diesen Worten scherzhaft zuzwinkerte, verschwand ihre Neugier abrupt und an ihre Stelle trat die alte Schüchternheit und auch die Angst, die sie gegenüber Menschen ­empfand. Dazu kam, dass diese hier Magier waren, Drachen und unechte Einhörner hatten und ihr außerdem einfiel, wie tief sie unter der Erde war und wie weit weg von ihrem Rudel, dem Wald und ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder.

      Deor öffnete eine kleine, hölzerne Tür. Dahinter lag ein gemütlicher Raum voller Regale und Schränke, die allesamt mit Papieren, Büchern und Kästchen vollgestopft waren. Auch auf dem Boden stapelten sich Bücher. Inmitten dieses Durcheinanders stand ein wuchtiger Schreibtisch, an dem eine junge Frau saß, die bei ihrem Eintreten aufblickte und sich zu einem leicht gestressten Lächeln zwang.

      Deor sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen um. „Brauchst du Hilfe beim Aufräumen?“, fragte er spitz.

      „Ja, ich weiß. Ich versuche schon seit Wochen, ein größeres Büro zu bekommen, aber die Typen vom Handel sind der Meinung, dass sie ihre eigenen ganz dringend benötigen. Und ich ertrinke hier fast in Anmeldelisten, Formularen, Adressenlisten, Einverständniserklärungen, Briefen, Bittstellungen und noch mehr Formularen“, erklärte die junge Frau, die wohl Valria sein musste, während sie aufstand und, über Bücherstapel kletternd, hinter dem Schreibtisch hervorkam.

      „Du könntest das Büro ja teilen“, schlug Deor vor und gab sich keine Mühe, eine ernste Miene zu bewahren.

      „Sicher. Und dann lege ich mir vielleicht noch ein drittes und viertes zu, zwischen denen ich ständig hin und her renne. Ich bin eben nicht für das Büroleben geschaffen“, fügte sie seufzend hinzu. Dann wanderte ihr Blick zu Neolyt hinüber, die sie bis dahin nicht beachtet hatte, und zog die Augenbrauen hoch.

      „Ein bisschen jung, ja?“, fragte sie Deor. „Wie alt bist du, Neolyt?“

      „Acht Winter“, erklärte sie, unsicher, ob das gut oder schlecht war.

      Valria seufzte abermals und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

      „Deor, das können wir nicht machen. Zehn Jahre, das mag noch gehen, außerdem war er schon fast elf. Aber acht Jahre ist absolut unmöglich! Dafür werden wir niemals die Erlaubnis bekommen. Und wer wird sich bereiterklären, sie zu unterrichten?“

      Deor kniff die Lippen zusammen. „Das kann ich machen“, entgegnete er.

      „Du hast aber schon einen Schüler und außerdem überleg doch mal, sie ist noch ein Kind!“

      Neolyt runzelte die Stirn. „Als Wolf bin ich sogar schon erwachsen“, unterbrach sie die beiden Erwachsenen.

      „Als Wolf?“, fragte Valria verständnislos.

      „Ich bin ein Halbwolf“, erklärte sie mit anfänglich fester Stimme. „Also eigentlich glaube ich, mehr Wolf als Mensch, weil ich nämlich leichter ein Wolf sein kann, als ein Mensch.“ Sie wurde leiser und verstummte schließlich unter den verblüfften Blicken der beiden Erwachsenen.

      Deor und Valria sahen sich an. Dann lächelten beide.

      „Das ist natürlich etwas anderes und ich denke, es dürfte auch kein Problem sein, dass Deor dich und Yewan unterrichtet“, erklärte Valria, nun viel freundlicher. „Es tut mir leid, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du ein Halbwolf bist. Deor kann dir jetzt erst einmal dein Zimmer zeigen und dich ein bisschen herumführen.“

      Deor nickte, verabschiedete sich und führte Neolyt nach draußen auf den mit Flammengeisterlampen beleuchteten Flur.

      „Du darfst ihr das nicht übelnehmen, ja? Sie ist ein bisschen gestresst und eigentlich hasst sie es, im Büro zu arbeiten. Normalerweise ist sie Leiterin einer Spezialgruppe, aber wir wurden hierherbeordert, um nach Schülern zu suchen. Und jetzt muss sie den lieben langen Tag Formulare ausfüllen, die Arme.“ Er sah aus, als täte ihm das überhaupt nicht leid.

      „Magst du sie nicht?“, fragte Neolyt deshalb verwundert, während sie eine Wendeltreppe hinabstiegen.

      „Doch. Aber ich bin froh, nicht an ihrer Stelle zu sein. Außerdem war sie ursprünglich die einzige aus unserer Einheit, die sich auf die Zeit hier gefreut hat.“ Abermals grinste er breit. „Komm, wir schauen nach, ob Yewan, mein anderer Schüler, auch schön fleißig die Aufgaben löst, die ich ihm gegeben habe.“ Sie gingen einen weiteren hohen Gang entlang und betraten dann durch eine zweiflügelige Holztür einen Raum voller Bücher. Gleich neben der Tür stand ein Tisch, an dem ein älterer Herr saß, der sich mit einer Lupe in der Hand über ein altes Buch beugte. Als sie eintraten, sah er auf.

      „Ah, Deor, wen bringst du schon wieder mit?“, fragte er verschmitzt und lächelte Neolyt freundlich an.

      „Ich heiße Neolyt“, erklärte sie ihm, immer noch etwas schüchtern.

      „Sag, Neolyt, hast du schon einmal ein Buch gelesen?“, fragte er weiter, während er aufstand und auf seinen Stab gestützt hinter dem Schreibtisch hervorkam.

      „Ich … ich kann gar nicht richtig lesen“, gab sie leise zu und wurde rot.

      „Das ist nicht so schlimm, ich werde es dir beibringen“, schlug der Alte ihr vor und sein Lächeln wurde noch breiter und wärmer. „Im Übrigen bin ich Deas, der Wächter der Bibliothek. Obwohl es hier nicht viel zu bewachen gibt, außer Bücherwürmern und Papiermotten.“

      Neolyt musste kichern und fragte sich, ob das tatsächlich stimmte oder Deas diese Wesen soeben erfunden hatte.

      „Ich kann sie heute Nachmittag bei dir vorbeischicken“, meinte Deor und nickte dem Alten zum Abschied noch einmal zu.

      „Denkst du, er wird mir auch schreiben beibringen?“, fragte Neolyt ihn hoffnungsvoll, während sie durch die Regalreihen gingen.

      „Natürlich. Das macht er immer, wenn wir einen Analphabeten aufgabeln.“

      „Analphawas?“

      „Das ist jemand, der nicht lesen und schreiben kann“, erklärte