TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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viele Lügen, nur um dem Schicksal gerecht zu werden. Trotzdem werde ich nicht aufgeben, und wenn nicht ich ihn aufhalten werde, so wirst doch wenigstens du es versuchen können. Wenn du das hier liest, werden wir uns noch nicht begegnet sein und du wirst mir auch nie begegnen, aber ich werde dich sehen. Doch bis dahin werden noch Tausende Jahre vergehen, denn ich bin der Anfang der Geschichte, du aber wirst ihr Ende sein.

      Weit weg vom Land der Einhörner und viele Jahre, nachdem das neue Zeitalter begonnen hatte, lauerte in Tukmelas Wäldern eine junge Wölfin ihrer Beute auf, noch nichts von den Einhornreitern ahnend.

      Neolyt schlich tief ins Gras geduckt auf den Hasen zu. Der Wind stand günstig, er würde sie nicht bemerken. Noch ein Schritt, dann – doch plötzlich durchschnitt ein Schuss die Stille und der Hase sprang wie der Blitz im Zickzack davon. Erschreckt drehte Neolyt ihre Ohren in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Sie konnte Menschenrufe und Hundegebell hören. Was sollte das? Bis zur Jagdsaison mussten es noch mindestens zwei Monde sein. Ihr Blick verfinsterte sich. Wilderer. Mordsüchtige Menschen mit Gewehren, die im Frühjahr die Jungen schossen. Letztes Jahr hatte ihr Rudel drei Welpen an sie verloren.

      Sie wollte gerade davonlaufen, als sie ein klägliches Heulen vernahm, das ihr das Blut in den Adern erstarren ließ. Flit. Diese Mistkerle hatten ihn erwischt. Entgegen all ihrer Instinkte lief sie in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war.

      Immer wieder tauchte sie in den Schatten der Bäume unter, um nicht entdeckt zu werden, aber sie musste sich beeilen. Abermals heulte Flit. Dieser Dummkopf! Die Menschen würden ihn noch vor ihr finden! Sie lief weiter, ins Unterholz geduckt, vernahm schon das Bellen der Hunde, als sie ihn endlich entdeckte. Er schleppte sich hinkend durchs Gebüsch, eine deutliche Blutspur hinterlassend. Sie sprang auf ihn zu, packte ihren kleinen Bruder im Genick und verschwand mit ihm so schnell sie konnte im Unterholz. Über die versteckten Pfade, die sie wählte, würden ihr die Menschen nicht so leicht folgen können.

      Das Bellen der Hunde und die Rufe der Menschen wurden immer leiser. Sehr gut, so viel war ihnen ihre Beute also nicht wert.

      Auf einer kleinen Lichtung hielt sie schließlich an und legte Flit auf das Moos. Er zitterte am ganzen Leib und hatte die Augen weit aufgerissen. Ängstlich und flehend sah er sie an. Doch Neolyt wich seinem Blick aus. Nach den Gesetzen des Rudels hätte sie ihn nicht einmal vor den Menschen retten dürfen – wer verletzt war, wurde nicht gerettet, um das Rudel nicht in Gefahr zu bringen. Aber beim weißen Hirsch, sie konnte doch ihren eigenen Bruder nicht einfach sterben lassen!

      Neolyt konzentrierte sich kurz und nahm dann ihre menschliche Gestalt an. In einer Tasche ihrer Hose fand sie den Beutel mit Heilsalbe, die ihr die Kräuterfrau aus dem Menschendorf gegeben hatte. Zum Glück hatte die Kugel Flit nur gestreift. Wäre sie eingedrungen, hätte sie ihm nicht mehr helfen können. Neolyt wusch die Wunde mit dem Wasser aus ihrer Trinkflasche aus und trug vorsichtig die Salbe auf. Gerade wollte sie einen Fetzen von ihrem Hemd abreißen, als hinter ihr ein Ast knackte. Blitzschnell fuhr sie herum. Ein Wilderer stand zwischen den Bäumen, das Gewehr auf ihren Bruder angelegt.

      Es knallte, die Kugel flog.

      Instinktiv stellte sich Neolyt in ihre Bahn und streckte die Hand aus. Zu spät wurde ihr klar, wie dumm das war. Wie in Zeitlupe flog die Kugel auf sie zu, als wolle sie den Moment des Aufpralls hinauszögern. Nur wenige Handbreit von ihr entfernt schien sie in der Luft stehen zu bleiben.

      Schien? Neolyt blinzelte. Die Kugel bewegte sich tatsächlich nicht. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und mit einem dumpfen Geräusch fiel die Kugel ins Moos.

      Neolyt achtete nicht auf den Wilderer, der mit panischen Blicken davonhastete, und auch nicht auf Flit, dessen Augen vor Erstaunen riesig geworden waren.

      Was um alles in der Welt hatte sie getan?

      Deor hatte sich als Dörfler verkleidet und in eine der Dorf­kneipen gesetzt, um ein paar ­Neuig­keiten aufzu­schnappen, die auf potenzielle Schüler hinwiesen. In letzter Zeit machte ein Gerücht die Runde, im Wald würde eine Hexe leben, die sich in einen Wolf verwandeln könne. Meistens war so etwas nur dummes Gerede, aber das war, wie Valria immer behauptete, schließlich sein Spezialgebiet. Sie leitete die kleine Gruppe von Reitern, die hier in Tukmela nach Kindern mit magischem Potenzial suchten.

      „Sie hat dem Wolf, den ich angeschossen habe, das Blut ausgesaugt, und als ich sie erschießen wollte, hat sie die Kugel in der Luft angehalten und auf mich zurückgelenkt. Ihr wisst ja, dass ich mich normalerweise von Nichts aus der Ruhe bringen lasse, aber da lief‘s mir kalt den Rücken runter, kann ich euch sagen.“ Das war der Jäger, der behauptet hatte, die Hexe gesehen zu haben.

      Die Männer an seinem Tisch sahen ihn mit großen Augen an.

      „Der Wald war mir noch nie so richtig geheuer“, meinte einer von ihnen schließlich.

      „Erinnert ihr euch an den großen Brand, letztes Jahr an der Nordseite?“

      Sie nickten und ihnen war anzusehen, dass sie nicht gerne daran zurückdachten.

      „Mein Cousin Erik hat geschworen, dass das, was den Brand ausgelöst hat, ein Drache war.“ Der Sprecher hatte die Stimme gesenkt und sich tief über den Tisch gebeugt. „Und außerdem sagte er, dass auf dem Drachen ein Mensch saß.“

      Deor verkniff sich ein Lächeln. An diese Geschichte erinnerte er sich nur zu gut. Er war mit einem seiner Schüler über den Wald geflogen – natürlich vorsorglich mit einem Sichtschild geschützt –, doch hatte dessen junger Drache plötzlich den Feuerhusten bekommen, mitten im Flug. Da hatte auch der beste Sichtschild nichts geholfen.

      Das Gespräch der Männer wandte sich wieder uninteressanteren Themen zu und Deor stand auf, um zu gehen. Für heute hatte er genug gehört. Er schmiss dem Wirt noch zwei Groschen auf die Theke, dann war er auch schon draußen. Die kühle, klare Luft war nach dem stickigen und verrauchten Wirtshaus ein Segen. Er gähnte ausgiebig und machte sich auf den Weg zu seiner Drachin Jufra, die sich etwas außerhalb des Dorfes versteckt hielt.

      Auf einmal sah er aus dem Augenwinkel eine huschende Bewegung. Jeder andere hätte es für eine Sinnestäuschung gehalten, aber er hatte nicht umsonst eine jahrelange Ausbildung über sich ergehen lassen, ganz zu schweigen von den Erfahrungen, die er während des einen oder anderen Spionageeinsatzes gesammelt hatte. Deor ging langsam weiter, um kein Aufsehen zu erregen, bog um die Ecke und legte einen Unsichtbarkeitszauber über sich. Dann kehrte er wieder um und schlug die Richtung ein, in die die Gestalt verschwunden war. Es war in den engen Gassen zwischen den Häusern zu dunkel, um etwas zu sehen. War es am Ende nur – doch da hörte er Stimmen. Zu einem Flüstern gesenkt kamen sie aus der Hütte neben ihm. Leise schlich er zu einem der Fenster und spähte hinein, aber drinnen war es so dunkel, dass er nichts erkennen konnte.

      „… hat dich gesehen“, sagte gerade die Stimme einer älteren Frau.

      „Ich weiß. Was erzählt er?“ Das war ein Kind, vermutlich ein Mädchen.

      „Stuss, nehme ich an. Du wärst eine Hexe, die ihre Gestalt verändern könne, und hättest eine Kugel in der Luft angehalten.“

      „Das habe ich doch nur gemacht, um Flit zu beschützen.“

      „Soll das heißen, der Teil mit der Kugel stimmt auch?“

      „Ja, Irla, aber ich weiß wirklich nicht, wie. Es ist einfach so passiert.“

      „Na schön. Aber wenn du die Kugel doch abgelenkt hast, wozu brauchst du dann die Heilsalbe?“

      „Er ist vorher schon angeschossen worden und ich muss den Verband erneuern.“

      „Dann gebe ich dir am besten noch Verbandszeug mit, bevor du das schöne Hemd noch völlig ruinierst.“

      Man hörte, wie in einer Kiste gekramt wurde.

      „Was sagt eigentlich deine Mutter dazu?“

      Eine Weile schwieg das Mädchen.

      „Mein Vater ist sehr wütend, weil