Lanterne Rouge. Max Leonard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Leonard
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783955101251
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ich weniger als zuvor. Ich hatte das Skelett zwar mit etwas Fleisch angereichert, aber ich war mir nicht mehr sicher, ob es wirklich das richtige Skelett war. Arsène fehlte am Schluss der Tour, und außer einer anderen bestätigten Sichtung hatten sich die Anekdoten, über die ich verfügte, als falsch erwiesen. Die journalistischen Aufzeichnungen waren schludrig, und der Star selbst bestenfalls ein Geschichtenerzähler, wenn nicht gar ein Scharlatan oder Spinner.

      Zurück in Großbritannien verlegte ich mich wieder darauf, im Internet zu recherchieren – in Foren, auf Websites zur Sportgeschichte und bei den anderen üblichen Verdächtigen –, aber es kam mir sinnlos vor. Welche Hilfe können Sekundärquellen schon bieten, wenn die Primärquellen lückenhaft waren? Ich brauchte einen Spezialisten, um mir ein Bild von dem machen zu können, was in jenen Jahren wirklich vor sich gegangen war. Als Retter in der Not trat der Franzose Pierrot Picq auf, ein Tour-Historiker, der sich sehr intensiv mit der ersten Tour beschäftigt hatte. Arsène, so erzählte er mir, hatte die Tour durchaus zum Abschluss gebracht, aber es nicht geschafft, die Ziellinie vor Redaktionsschluss zu überqueren.

      Damit wurden auch plötzlich die Lücken in den Berichten über Arsènes Beteiligung an einzelnen Etappen verständlich: Alle waren an der Spitzengruppe interessiert, und bei einer täglich erscheinenden Zeitung war es nicht möglich, auf die langsamen Radler zu warten. Hätte ich die Ausgabe des nächsten Tages einsehen können, so hätte ich dort Arsènes Zeit für die letzte Etappe schwarz auf weiß gefunden (dabei war er übrigens nicht der Letzte) und damit seine Letztplatzierung in der Gesamtwertung bestätigt.

      Millochau hatte für sich die Ehre in Anspruch genommen, der Erste gewesen zu sein, der als Letzter durchs Ziel ging. Ich für meinen Teil war erleichtert, dass meine ganze Arbeit nicht umsonst gewesen war. Es wäre mir grausam vorgekommen, diesem Mann die einzige Auszeichnung wegzunehmen, die ihm geblieben war. Auf eigenartige Weise war ich sogar stolz auf ihn.

      Picq half mir auch, die Lücken in Arsènes Rennsportkarriere und der Liste seiner Auszeichnungen zu füllen. Er nannte Arsène »einen der Pioniere des Radsports, sowohl auf der Straße als auch auf der Rennbahn«, und nannte mir einige seiner Rennergebnisse:

1895 Bordeaux–Paris Platz 9
1896 Bordeaux–Paris Platz 13
1897 Paris–Roubaix Platz 24
Bordeaux–Paris Platz 5
Bol d'Or (ein prestigeträchtiges24-Stunden-Steherrennen) Platz 4
1902 Marseille–Paris Platz 13

      Viel später, nämlich im Jahr 1921, kam er beim Rennen Paris–Brest– Paris auf Platz 34, und im darauf folgenden Jahr trat er bei der Tour Bordeaux–Paris an, gab aber schließlich auf. Er war 55 Jahre alt.

      Alles in allem nicht schlecht für einen Verlierer. Angesichts der Tatsache, dass er erst ein halbes Jahrhundert nach den fraglichen Ereignissen mit dem Miroir Sprint sprach, ist es auch verständlich, dass er sich bei einigen Daten geirrt hat. Man kann aber unmöglich ignorieren, wie weit er hinter dem Sieger zurücklag: Bei der Tour de France 1903 war er fast 65 Stunden länger unterwegs als Garin. Das ist allerdings noch nicht der Rekord: Antoine de Flotière, lanterne rouge von 1904, brauchte unglaubliche 100 Stunden und 28 Minuten (und 52 Sekunden) länger als der schnellste Fahrer, und das auf genau derselben Strecke wie bei Millochau. Vier weitere rote Laternen in den 1910er und 1920er Jahren lagen ebenfalls 65 Stunden oder mehr zurück.6 65 Stunden sind eine lange Zeit: Ein Profi der heutigen Zeit fährt fast die gesamte Tour de France in dieser Zeit. Maurice Garin ließ in seiner Geschwindigkeit nicht nach. (Sein Abstand zum Zweitplatzierten von fast drei Stunden ist der größte, den es jemals gab.) Er war so schnell, dass er beinahe Géo Lefèvre überholte, den rasenden Reporter von L'Auto. Lefèvre, Kampfrichter und Zeitnehmer, konnte seine Rolle bei der ersten Etappe schon nicht richtig wahrnehmen. Als sein Zug zum Ende der ersten Etappe in Lyon eintraf, ließ sich Garin schon sein Frühstück schmecken. Millochaus Durchschnittsgeschwindigkeit lag etwa 11 km/h unter der von Garin.7

      Die Entwicklung der Durchschnittsgeschwindigkeiten während der Geschichte der Tour ist sehr interessant. Verbesserungen bei der Technik, den Straßenbelägen, dem Training, der Ernährung und der Unterstützung während der Fahrt haben zu einem stetigen Anstieg geführt, wobei die heutigen Touren etwas langsamer gefahren werden als während der EPO-Jahre in den spätern 1990er und 2000er Jahren. Der Abstand zwischen den Siegern und den Letzplatzierten schwankte während der ersten Touren sehr stark, als die Fahrer allein auf unbefestigen Straßen unterwegs waren und alle Schäden selbst reparieren mussten. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch, als die Tour zu einer Mannschaftssportart wurde, ließ man technische Assistenz zu, während gleichzeitig die Straßenbeläge besser wurden. Das führte dazu, dass sich der Abstand zwischen Sieger und Schlusslicht einpendelte und abnahm. Die Durchschnittsgeschwindigkeiten des Ersten und des Letzten auf diesem Rennen über Tausende von Kilometern und 60 Stunden oder mehr unterscheiden sich in der Zeit nach dem Krieg nur um ein bis zwei Stundenkilometer. Nehmen wir etwa Adriano Malori, einen knapp 23 Jahre alten ehe maligen Zeitwertungschampion aus Italien, der 2010 die lanterne rouge trug und die 3642 km der Tour mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 37,7 km/h zurücklegte – nur 1,9 km/h langsamer als der Sieger Alberto Contador (dem sein Titel aber nachträglich aberkannt wurde). Ein anderes Beispiel ist José Berrendero, der auf der Tour 1960 für Spanien fuhr: 35,63 km/h im Vergleich zu den 37,21 km/h von Gastone Nencini, dem Träger des gelben Trikots. Es gibt noch viele, viele weitere Beispiele. Die Regel gilt tatsächlich, auch wenn die Durchschnittsgeschwindigkeiten insgesamt steigen.

      Ein bis zwei Stundenkilometer über eine Strecke von drei- bis viertausend Kilometern. So schmal ist der Grat zwischen Sieg und Niederlage.

      Der Abstand zwischen dem langsamsten Profi und dem schnellsten Amateur ist größer. Der Sieger der verhagelten Amateuretappe Issoire–Saint-Flour, an der ich kurz teilnahm, brauchte eine ganze Stunde länger als der langsamste Profi auf derselben Strecke im selben Jahr der Tour. Es gibt viele Faktoren, die diese große Kluft erklären können – das bessere Wetter und die Aerodynamik des Fahrens im Peloton machten es für die Profis erheblich einfacher –, aber dafür waren die Profis auch schon seit acht Tagen unterwegs. Es ist nicht zu leugnen, dass nur sehr wenige von uns mehr als ein oder zwei Kilometer mit den Profis mithalten können, selbst mit der lanterne rouge.

      Denken Sie immer daran, wenn Sie sich über Arsènes Leistung amüsieren. Seine Verspätung um 65 Stunden mag heute lächerlich wirken, aber er hatte sich seine Gesamtzeit wenigstens ehrlich erkämpft. Maurice Garin errang ewigen Ruhm und ging in die Geschichte des Radsports ein, indem er die erste Tour gewann, allerdings verdarb er es sich schon im nächsten Jahr mit den Radsportfans, indem er schummelte. Man muss sich einmal vorstellen, was da im Jahr 1904 passierte: Mitten in einem Rundrennen stieg der Titelverteidiger von seinem Fahrrad und nahm den Zug. Garin war nur der Erste von vielen Tourgewinnern, die betrogen haben. Ist es richtig, dass wir einigen Betrügern vergeben – und sie sogar feiern! –, während wir andere kritisieren?

      An Arsène dagegen erinnert man sich kaum noch. Bei der ersten Tour de France gab es noch keine Mannschaften, und jegliche Hilfe von außen war untersagt. Er war auf sich allein gestellt, und wir werden seine ganze Geschichte nie erfahren. »Es gibt keinen Teilnehmer, der hier ohne die Hoffnung auf eine ehrenvolle Platzierung antritt«, sagte Desgrange 1903 von seinen glorreichen Männern. Es mag offensichtlich erscheinen, aber ich denke, dass er Recht hatte: Ich wette, dass Arsène große Hoffnungen in dieses Abenteuer setzte. So gut wie niemand tritt mit der Vorstellung zu einem Rennen an, dass er Letzter werden könnte, und das auch noch mit einem so großen Abstand, und erst recht kein Profi, der das Talent, den Mut und das Geschick hat, um sich einen guten Platz zu erkämpfen. Ich glaube, dass ihn irgendwo auf dem langen Weg zurück nach Paris sein Glück und seine Ausrüstung im Stich ließen, vielleicht sogar mehrmals,