Ich wollte sie fragen: Was bringt euch – was bringt uns alle – dazu, weiterzumachen? Warum geben wir nicht einfach auf und machen stattdessen etwas, das einfacher und weniger mühselig ist?
KAPITEL 1
DER ERSTE, DER ALS LETZTER KAM
Nun da die Wahrheit heraus ist,
Halt still und stecke ein
Was je ein Schandmaul lästert,
Wie kannst du, ehrsam erzogen,
Dich auch mit einem messen,
Der, wenn er als Lügner erkannt,
Weder vor sich noch andern
Sich dessen schämen mag?
Nicht zum Triumph erzogen,
Sondern zu härterem Sein
Wende dich ab ...
W. B. Yeats, »Für eine Freundin, deren Werk zunichte ward«
(»To a Friend Whose Work Has Come to Nothing«).
Ich hatte schon so lange nach einem Lebenszeichen gesucht – nach irgendeiner Form von Lebenszeichen –, dass es für mich eine große Erleichterung war, als ich endlich sein Gesicht sah.
Tagelang hatte ich die Seiten der eingestellten Sportzeitung L'Auto durchstöbert und in 110 Jahre alten Rennberichten nach seinem Namen gefahndet – Tage, an denen ich zwischen schläfrigen alten Männern und Studenten im Keller der französischen Nationalbibliothek am linken Seineufer rollenweise zerkratzten Mikrofilm durchspulte, um Gespenster auf Fahrrädern zu erhaschen, die ihre erste Tour durch Frankreich angetreten hatten.
Ich suchte nach Arsène Millochau, den ich dem Vergessen entreißen wollte, denn, so hatte ich überlegt, die Geschichte der Letzten bei der Tour de France musste mit dem Ersten beginnen, dem diese zweifelhafte Ehre zugefallen war. Es war nicht einfach gewesen, irgendwelche Informationen über ihn auszugraben, und die geplante einfache historische Skizze wuchs sich zu einer Mischung aus Vermisstensuche und archäologischer Ausgrabung aus. Nur eine einzige Tatsache schien gesichert zu sein, nämlich dass er als Erster Letzter geworden war. 1903 hatte er die Ziellinie sage und schreibe 64 Stunden, 57 Minuten und 8 2/5 Sekunden nach dem Sieger Maurice Garin überquert, als 21. von 21 Finalisten.
Millochau nahm an dem Rennen der ersten Tour de France teil – wenn er auch nicht gerade ein »Rennen« hinlegte –, versuchte es danach aber nie wieder.
Einige Fakten über die erste Tour sind ziemlich gut bekannt – beispielsweise dass sie der letzte Versuch war, die französische Sportzeitung L'Auto in einem erbitterten Pressekampf vor dem Ruin zu bewahren; dass ihr Herausgeber Henri Desgrange, ein kämpferischer Sportasket, sofort bereitwillig die Idee aufnahm, Radfahrer auf eine Sechs-Etappen-Tour durch die französische Wildnis zu schicken; dass es sein Nachwuchsreporter Géo Lefèvre war, der ihm diese Tour über ein paar Gläsern Chablis und einem Hummer Thermidor vorschlug, während sie Ideen zur Rettung des krisengeschüttelten Blatts ausbrüteten.1 Seit dem ersten Straßenradrennen der Welt von Paris nach Rouen im Jahre 1869 und insbesondere nach dem Erfolg, den das erste Bordeaux-Paris-Rennen 1891 der wöchentlichen Véloce-Sport brachte, hatten französische Zeitungen Werberennen veranstaltet. Zwei der bekanntesten, die es in gewisser Form auch heute noch gibt, sind Paris–Brest–Paris (1891) und Paris–Roubaix (1895). Das neue Vorhaben aber war noch anspruchsvoller: eine Tour durch ganz Frankreich! Es war ein verrückter Plan, aber er konnte gelingen.
Neben diesen bekannten Bekannten – um mit Donald Rumsfeld zu sprechen – gibt es auch bekannte Unbekannte und reichlich Halbwahrheiten, Mutmaßungen und Berichte, die in den Bereich der Legende spielen. Was wissen die meisten von uns schon über Maurice Garin, außer dass er einen zeitgemäßen Schnurrbart trug, einen Hang zu klobiger Strickkleidung hatte und sich gern eine Zigarette anzündete? Dass er die erste Tour de France gewann? Ja. Dass er bei der zweiten Tour disqualifiziert wurde, weil er mit der Eisenbahn gefahren war? Oder war das Pothier gewesen? Oder war das 1906 gewesen? Und der erste Berg, der in Angriff genommen wurde, war doch der Tourmalet? Mehr als bei vielen anderen historischen Ereignissen gilt bei der Tour de France: Du erzählst mir deine Wahrheit, und ich erzähle dir meine.
Bis zu meinem Besuch in der Bibliothek in Paris standen mir nur ein sehr kurzer Wikipedia-Artikel und einige spannende Einträge auf entlegenen Internetseiten zur Verfügung. Ich hatte kaum Zweifel, dass Millochau 1867 in Champseru geboren war, in Nordfrankreich in der Nähe von Chartres, aber bei seinem Namen war ich mir nicht sicher, denn viele Quellen schrieben ihn »Millocheau« mit e. Der alte Arsène war eine schwer fassbare Figur, fast kokett in seinem Widerstreben, klare Konturen zu zeigen, und ich hatte mich in diese Jagd nach seiner Identität hineinziehen lassen. Ich hatte schon in Internetforen und auf obskuren Websites für Ahnenforscher fruchtlose Anfragen gestellt. In der Bibliothek hoffte ich, wenigstens ein paar bruchstückhafte Fakten zu finden, die dem Papierkorb der Geschichte entronnen waren. Zusammen mit den alten Nummern von L'Auto spulte sich die erste Tour vor mir ab, als fände sie zum ersten Mal statt. Nach und nach geriet Arsènes Rolle in den Brennpunkt. Zu seinem Pech bestand diese Rolle gleich von Anfang an hauptsächlich darin, das Schlusslicht zu spielen.
Im Januar 1903 begründete Desgrange offiziell die Tour de France, »die größte Radsportherausforderung der Welt«. Allerdings waren die Radsportler Europas nicht so draufgängerisch wie er selbst. Der ursprünglich für Juni vorgesehene Start wurde wegen der geringen Resonanz auf Juli verschoben. Von Mai bis zum Beginn des Rennens berichtete L'Auto regelmäßig über die Regeln, die sich Desgrange ausdachte, und insbesondere über die Preise. Die Teilnahme kostete 10 Francs (100 € nach heutigem Geldwert). Täglich wurde eine Liste der Neuzugänge veröffentlicht, aber trotz Desgranges Bemühungen verliefen die Einschreibungen schleppend. Der Anmeldeschluss am 15. Juni drohte, und die Aufrufe auf der Titelseite, abwechselnd Überredungsversuche und Bitten, wurden immer häufiger und drängender.
Am 1. Juni meldete L'Auto: »Fast alle Asse der Straße haben sich schon angemeldet«, als ob das die weniger talentierten Radler dazu ermuntern könnte, sich von ihrem Geld zu trennen und ihren Namen auf die Liste zu setzen. Millochau, sicherlich keines der »Asse«, tat es jedenfalls nicht. Am 7. Juni erschien Lucien Pothier, der als Zweiter durchs Ziel gehen sollte, erst auf Platz 37 der Liste. Arsène fehlte immer noch. Am 11. Juni griff Desgrange darauf zurück, Stars wie Lucien Petit-Breton (einen künftigen Sieger), die sich zwar eingetragen, aber ihre Startgebühr noch nicht entrichtet hatten, in aller Öffentlichkeit namentlich anzusprechen: Kommt und nehmt die Herausforderung an, wenn ihr hart genug seid! Millochau glänzte nach wie vor durch Abwesenheit.
Endlich hieß es am 16. Juni in der ersten Ausgabe nach dem Anmeldeschluss von Montagabend: »A. Millochau (Chartres)« – an 67. Stelle von letztlich 80 Teilnehmern. Die Zeitung hatte großzügigerweise versprochen, auch noch die Anmeldungen zu berücksichtigen, die um 17.00 Uhr des Vortages eingegangen waren. Obwohl ich die Teilnahme von Millochau niemals ernsthaft bezweifelt hatte, jagte es mir doch einen gewissen Schauer den Rücken herunter, seinen Namen zum ersten Mal gedruckt zu sehen.
Was für Gedanken hatte sich Millochau zu diesem Zeitpunkt gemacht? Es war eine große Herausforderung, auf dem Fahrrad 2428 Kilometer quer durch Frankreich zu rasen, und 10 Francs stellten eine zu verschwenderische Investition für jemanden dar, der keine ernsthaften Gewinnabsichten hegte – selbst wenn man die finanzielle Unterstützung berücksichtigt, die den Fahrern gezahlt werden sollte, um die Kosten der Teilnahme auszugleichen. Andererseits weiß jeder, der sich schon einmal spät für ein Rennen oder einen anderen sportlichen Wettkampf angemeldet hat, dass eine Einschreibung in letzter Minute alles andere als ein Zeichen von überwältigendem Selbstvertrauen ist. Nach seiner Karriere als Radrennfahrer und wahrscheinlich auch schon währenddessen arbeitete Arsène als Fahrradmechaniker. Durch die Teilnahme an der Tour de France hat er wahrscheinlich Einkünfte eingebüßt, aber andererseits konnte sie auch gut für sein Geschäft sein. Vielleicht hatte er sich