Selbst vor meinem unehrenhaften Ausscheiden hatte ich große Ehrfucht vor den Leistungen, die professionellen Radsportlern abverlangt werden. Auch nur eine einzige Etappe im Kielwasser der Profis zu fahren (und dabei zu versagen), lässt einen nachfühlen, was sie durchmachen. Ihre Fitness und die Härten, zu denen sie sich zwingen, sind fast unvorstellbar. Für diejenigen, die sich einen Platz in den Annalen der Sportgeschichte sichern wollen, können sich die Schmerzen und Entbehrungen – vielleicht – lohnen. (Nach dem Unfall trug Hoogerland mehrere Etappen lang das Bergsieger-Trikot.) Der Profiradsport ist aber kein Nullsummenspiel. Hinter jedem Sieger stehen hundert andere Radfahrer, gesichtslos im Schwarm des Pelotons, und gehen ihrem gefährlichen Sport nach: Männer, die für wenig Belohnung oder Anerkennung angestrengt fahren, stürzen, sich wieder aufrappeln und weitermachen. Und am nächsten Tag machen sie es erneut, noch einmal, mit Engagement. Wiederholtes Bemühen, um in der Unsichtbarkeit zu verschwinden. Bei den modernen Touren gibt es die Prolog- und Etappensieger, vier Trikots, den Preis für den kämpferischsten Fahrer und den Mannschaftspreis. Abgesehen von der einen oder anderen Zeitwertung der Teams macht das höchstens 35 »Sieger« pro Jahr. Dem stehen 163 Männer gegenüber – falls ein Wunder geschieht und niemand vorher ausscheidet –, die am Tag nach der Party auf den ChampsÉlysées im Hotel Concorde La Fayette zwischen prallen Daunenkissen und einem Bettlaken aus ägyptischer Baumwolle aufwachen – ohne Anerkennung, ohne Belohnung, nur mit wunden Beinen, heftiger Bauarbeiterbräune, durcheinandergeratenem Stoffwechsel und abblätterndem Schorf als Andenken. Nicht zu vergessen den Kater.
Jedes Jahr ist einer dieser Männer der Träger der lanterne rouge, der »roten Laterne«, wie der Letzte in der Gesamtwertung genannt wird. Dies ist der zweifelhafteste Preis im ganzen Radsport, und doch übt er eine sonderbare Anziehungskraft auf viele Fans aus. Manche halten die lanterne rouge nur für einen Scherzpreis für untalentierte Radfahrer. Für andere ist er das Ehrenzeichen für Überlebende, verliehen an einen Mann, der gegen alle widrigen Umstände ehrenvoll gekämpft hat. Die lanterne rouge ist ein Paradoxon, sowohl ein Schandmal als auch ein Zeichen für die wichtigsten menschlichen Qualitäten. Als Symbol wird der Preis in Ehren gehalten, aber die Einzelschicksale dahinter werden vergessen. Was auch immer geschieht, eines ist sicher: Eine lanterne rouge wird es immer geben. Jedes Jahr, wenn er sein müdes Haupt auf ein Kopfkissen in Paris bettet, hat dieser Mann etwa 20 % des Startfelds hinter sich gelassen. Seine Konkurrenten sind hauptsächlich wegen Verletzungen oder Erkrankungen ausgefallen.
Als nach meinem Fiasko die Erinnerungen an meinen Abbruch der Touretappe noch frisch waren, wollte ich mehr über die Männer erfahren, die hinter dem Titel lanterne rouge standen. Mit dem Mitgefühl, das die Zuschauer für die Außenseiter aufbringen, hatte ich schon bei verschiedenen Touren einige lanternes rouges angefeuert. Einer stach besonders hervor: Kenny van Hummel, ein niederländischer Sprinter. 2009 hatte er für einen Großteil der Tour den letzten Platz inne, wobei er oft eine halbe Stunde hinter dem Etappensieger ins Ziel ging. Obwohl er für die vor ihm liegenden Aufgaben offensichtlich nicht gut geeignet war, hatte er sich ein Heer von Fans in aller Welt geschaffen. Grund dafür war seine Tapferkeit, die ihn trotz hoher Berge, Hitzewellen und Stürzen nicht dazu brachte, das Unvermeidliche zu akzeptieren und das Rennen aufzugeben (bis er nach einem bösen Sturz in den Pyrenäen ausscheiden musste).
Jedes Jahr zur Zeit der Tour de France kommen ein oder zwei Geschichten über die lanterne rouge an die Öffentlichkeit. Entweder geht es dabei um das aktuelle Rennen, oder ein Journalist forscht tief in der reichhaltigen Vergangenheit der Tour und bringt Mut machende, traurige oder lustige Geschichten ans Tageslicht. Kenny war der Held der Geschichten des laufenden Jahres, und dabei zog er mehr Aufmerksamkeit auf sich als die meisten anderen. Abgesehen von diesen wenigen alljährlichen Erwähnungen in den Medien ist das hintere Ende des Teilnehmerfelds jedoch unerforschtes Gebiet.
Daher überlegte ich mir: Was würde herausfallen, wenn ich die Tour auf den Kopf stellte und heftig schüttelte?
Außer einigen vagen und unzusammenhängenden Einzelheiten wusste ich nur sehr wenig über die lanterne rouge oder auch nur darüber, warum ich mich überhaupt dafür interessierte.
Erstens: Aus dem Sieg als Prinzip mache ich mir nicht viel. Wettbewerb, ja. Rennen fahren, ja. Ein Ziel anstreben und sein Bestes dafür geben, sicherlich. Einen Rivalen zu schlagen, kann ein unvergleichliches Gefühl auslösen, sowohl aus guten als auch aus schlechten Gründen. Andererseits bin ich auf keinen Fall ein Fan vom Gegenteil des Siegens, nämlich des Verlierens – aber das ist auch gut so, denn dies soll definitiv kein Buch über Verlierer sein. Wenn das Rennen gelaufen ist und die Ergebnisse feststehen, verliere ich jedoch das Interesse an der Idee des Sieges, denn sie erscheint mir hohl. Uns wird oft gesagt, dass es nicht darauf ankommt, zu gewinnen, sondern dass Dabeisein alles ist. So etwas sagt man als Trost zu traurigen Kindern nach den Bundesjugendspielen, zu jemandem, der den angestrebten Job nicht bekommen hat, oder zu einem am Boden zerstörten Sportler, dessen Mannschaft gerade ein Heimspiel mit Pauken und Trompeten verloren hat. Wenn es im Leben aber um mehr geht als darum, zu gewinnen – um was geht es dann?
Zweitens: Die Erzählungen der meisten Sieger langweilten mich zu Tode. Für mich ist ihr Blickwinkel der uninteressanteste des ganzen Wettkampfes, und doch stehen sie im Rampenlicht. Wenn man den Champions in den unterschiedlichsten Sportarten lauscht, hört man immer wieder dieselben Gemeinplätze über Konzentration, Zähigkeit und das Wahrmachen seiner Träume, erfährt aber herzlich wenig darüber, was sich wirklich abgespielt hat. Weiter hinten im Peloton dagegen findet man so viele unterschiedliche Geschichten, wie es Teilnehmer und Etappen gibt. Radfahrer, die die unterschiedlichsten Aspeke des Rennens erlebt haben, die nach endlosen Stunden im Sattel zum x-ten Mal zusehen mussten, wie die schnellen Jungs vor ihnen hinter dem Hügelgrat verschwanden, müssen doch Zeit gehabt haben, um über das Gewinnen und Verlieren und darüber nachzudenken, warum sie das tun, was sie tun. Für uns Menschen außerhalb der Welt der Sportler, die vermutlich niemals irgendwo Erster (oder Letzter) sein werden, können dies nützliche Gedanken sein.
Eine dritte und letzte Überlegung: Wenn es im Leben um mehr geht als nur ums Siegen, dann muss dieses »Mehr« irgendwo in der Tour de France zu finden sein, denn die Tour ist mehr als ein Radrennen: Sie ist eine Bastion Frankreichs und französischer Kultur; ein dreiwöchiger Kurs in Geografie und Geschichte des Landes; ein Drama voller Moral und Gefühl; eine Tragikomödie, in der 200 Personen alle dasselbe wollen, das aber nur einer bekommt und das viele gar nicht fähig sind zu erreichen; ein Melodram voll (falscher) Hoffnungen und (gescheitertem) Ehrgeiz, voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Optimismus und Desillusionierung; ein menschlicher Zoo und ein Mikrokosmos des Lebens. Und ein dreiwöchiger Test für die Fähigkeit der Kommentatoren, ereignislose Stunden mit Geschichten über französische Schlösser und Käsesorten zu überbrücken.
Tony Hoar, der erste britische Träger der lanterne rouge, schrieb 1955 einen Artikel für die Zeitschrift Cycling, in dem er seine Eindrücke von der ersten britischen Erkundungsmission bei der größten Radsportveranstaltung auf dem Kontinent gab. »Die Spitzenfahrer der Tour brauchen die Qualitäten von Zátopek, Marciano, Harris, Tenzing und Coppi«, lautete der Bandwurm von Überschrift. Eine Mischung aus dem besten Langstreckenläufer seiner Zeit, dem damaligen Weltmeister im Schwergewichtsboxen, einem Rekordläufer, einem Bergsteiger, der den Mount Everest bezwungen hatte, und dem campionissimo – das ist der ultimative Radsportchampion.
Kann ein einzelner Fahrer