Lanterne Rouge. Max Leonard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Leonard
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783955101251
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und Einkommensverluste gegen die glänzende Aussicht auf Ruhm, Ehre und Reichtum abgewogen haben.

      1. Juli 1903: An der Startlinie am Café Au Reveil Matin in Montgeron, knapp südlich von Paris, warteten nur 60 Männer. Unter ihnen waren nicht nur die Favoriten wie Maurice Garin und Hippolyte Aucouturier, sondern auch Millochau, was bedeutete, dass er bereits weitergekommen war als ein Viertel der ursprünglich angemeldeten Teilnehmer. In Kürze würden sich diese Männer an die erste überlange Etappe machen, die über 467 Kilometer nach Lyon in Zentralfrankreich führte.

      »Mein Sportlerherz frohlockte angesichts des Schauspiels dieser tapferen Männer, die im Sonnenlicht als goldgeränderte Silhouetten erschienen und vor denen sich die Straße in die Unendlichkeit erstreckte«, formulierte Géo Lefèvre, der sich schon für die überschwängliche Prosa warmschrieb, die er in den nächsten drei Wochen bändeweise abliefern sollte. Trotz seiner hochtrabenden Worte blieben Zweifel. War diese Tour de France überhaupt durchführbar? In vielen entlegenen Gebieten des Landes war das Fahrrad eine unbekannte Maschine, und der Anblick spurtender Radfahrer erschreckte die Einheimischen. Selbst in größeren Städten bezweifelte man allgemein, dass ein Mensch in der Lage war, auch nur in den nächsten Ort zu radeln. Während des ersten Rennens Bordeaux–Paris waren in den Dörfern entlang der Strecke Mahlzeiten und Gästebetten vorbereitet worden, da man der Meinung war, die Radfahrer würden für die 560 km mehrere Tage benötigen. Befeuert durch rohes Fleisch und ein nicht mehr identifizierbares besonderes »Tonikum« brauchte der schnellste Fahrer in Wirklichkeit jedoch nur 26 Stunden. Auch die Strecke der Tour Paris–Brest–Paris (1200 km) erschien unvorstellbar lang, bis jemand namens Charles Terront sie wie ein Kinderspiel aussehen ließ: Er legte die Strecke fast ohne Schlafpausen in 71 Stunden und 22 Minuten zurück. Unbefestigte Wege und primitive Technik – schwere, unzuverlässige Fahrräder, wackelige Räder, keine Gangschaltung – waren nur zwei der größten Hindernisse. Bei den ersten Rennen herrschte in allen Bereichen der Geist vor, immer neue Erfahrungen zu machen, Herausforderungen zu suchen und falls nötig auch in Kauf zu nehmen, dass man die Grenzen des Machbaren falsch eingeschätzt hatte.

      Desgrange war zwar eifrig bemüht, Grenzen auszuloten, aber er hatte auch Zweifel. Zwar war er anwesend, um die Fahrer zu verabschieden, aber seine Angst vor einem Fehlschlag zeigte sich darin, dass er die Tour nicht begleitete. Diese Aufgabe, die die Zeiterfassung, die Organisation und die Berichterstattung umfasste, überließ er Géo Lefèvre, der dem Rennen in einer wahnwitzigen Folge von Bahnreisen hinterhereilen musste. Ein weiteres Zeichen dafür, dass Desgrange nicht alles auf eine Karte setzte, bestand darin, dass die Titelseite am Tag vor dem Tourbeginn dem Gordon Bennett Cup gewidmet war, einem jährlichen Autorennen, das von schnurrbärtigen Gentleman-Amateuren aus England und den USA ausgetragen wurde.

      Der Grand Départ war für 15.00 Uhr vorgesehen. Man hoffte, dass die Fahrer am nächsten Morgen rechtzeitig in Lyon eintrafen, sodass die Ergebnisse noch nach Paris telegrafiert werden konnten, bevor die Ausgabe des nächsten Tages in Druck ging. Um genau 15.16 Uhr starteten die Fahrer, und Desgrange zog sich in seinen Nachrichtenraum zurück. Lefèvre folgte den Teilnehmern 60 km weit im Auto – lang genug, um zu beobachten, dass Arsène hinter die Hauptgruppe zurückfiel. Zusätzlich zu den 20 Personen, die gar nicht erst angetreten waren, stiegen schon in den ersten vier Stunden weitere 20 Männer ab. Millochau radelte an den Menschenmassen vorbei, die sich entlang der Route versammelt hatten. Den ersten Kontrollpunkt, der 174 km entfernt bei Cosne lag, erreichte er nach etwas mehr als sechs Stunden, 19 Minuten nach Garin. Nach dem Bericht zu urteilen, der am nächsten Tag erschien, ließ die Unterstützung am Straßenrand während der ganzen Nacht nicht nach. Édouard Wattelier, einer der Favoriten, gab in der Dunkelheit irgendwann auf, aber Garin traf um 9.01 Uhr in Lyon ein, nachdem er die rauen Straßen mit der unglaublichen Geschwindigkeit von 26 km/h entlanggerast war. Millochau kam fast zehn Stunden später an, knapp vor 19.00 Uhr, als 33ster von 38 Teilnehmern, die überhaupt ans Ziel gelangten.

      Was war während dieser harten, schlaflosen Überstunden geschehen, die er im blendenden Tageslicht auf dem Fahrrad verbrachte? Vielleicht hatte er technische Probleme. Wir sprechen hier schließlich über eine Zeit, in der die Fahrer selbst für alle Reparaturen verantwortlich waren und in der man viele Stunden verlieren konnte, wenn man ein Rad flicken oder eine verbogene Gabel zum Schmied bringen musste. Vielleicht hatte Millochau auch ein lauschiges Plätzchen gefunden und ein Nickerchen unter einem Baum abgehalten, das Fahrrad aus Sicherheitsgründen hinter einer Hecke versteckt. Was sich einfacher in Erfahrung bringen lässt – aber viel weniger aussagt –, sind die bitteren, unausweichlichen Fakten. Am Ende der zweiten Etappe in Marseille lag Millochau schon fast 25 Stunden hinter Garin und bildete das Schlusslicht. Nach der furchtbaren dritten Etappe nach Toulouse war Millochau schon 84 Stunden, 48 Minuten und 55 Sekunden unterwegs, fast anderthalb Tage länger als Garin. Nach und nach schieden Fahrer aus, die vor ihm lagen, aber Arsène hielt durch. Er war jetzt Letzter und sollte es für den Rest des Rennens bleiben. Von Toulouse ging es nach Bordeaux, von Bordeaux nach Nantes, und von dort aus, um den Kreis zu schließen, nach Paris.

      Ein oder zwei Mal verschwindet er aus den offiziellen Klassifizierungen, nur um am nächsten Tag auf wunderbare Weise wieder aufzutauchen. Ich vermute, dass das nur auf Nachlässigkeit oder ein verständliches Desinteresse am hinteren Teil des Feldes zurückzuführen ist. Außer der offiziellen Eintragung seines Namens an den Kontrollpunkten wird er in L'Auto während der gesamten Tour nur ein einziges Mal erwähnt, nämlich in Orléans, 155 km vor Paris: »9.50 Uhr morgens, Millochau, sehr frisch. Er speist.«

      Er fällt zurück, und er speist. Das war alles? Ich fürchte, ja. Jeder Hinz und Kunz kann zurückfallen und etwas essen, aber zwischen diesen beiden Erwähnungen hatte dieser Mann 2200 km auf dem Fahrrad zurückgelegt, um als einer von nur 21 Männern zum ersten Mal eine Radrundfahrt durch Frankreich zu absolvieren. Und alles, was den Reportern einfiel, war zu sagen, dass er speiste?

      An dieser Stelle musste ich Arsène eines Abends zurücklassen: Er speiste, und ich wurde vor die Tür gesetzt, weil die Bibliothek schloss. Ich war frustriert, weil ich einem sowohl praktischen als auch philosophischen Problem gegenüberstand: Wie sollte ich die Geschichte der Letzten dieses Rennens schreiben? Es ist zwar offensichtlich, aber Rennen verlaufen nun mal in nur einer Richtung. Sie sind teleologisch und zielorientiert: Jeder versucht, an die Spitze zu kommen. Die Aufmerksamkeit der Fahrer, der Organisatoren, der Fans und der Medien konzentriert sich auf diese Spitze, und für das, was am anderen Ende geschieht, interessiert sich kaum jemand. Was dort abläuft, geht höchstwahrscheinlich verloren. Um die Sache doppelt schwierig zu machen, kam noch der zeitliche Abstand hinzu: Die lange Zeit von 1903 bis heute, die alles verschlingenden Nebel der Zeit sowie schlechte Geschichtsschreiber haben schon den Sieger zu einer fast vergessenen Figur gemacht – ganz zu schweigen von einem Außenseiter wie dem Letztplatzierten.

      Ich zog mich in eine Pariser Bar am Ufer eines der Kanäle zurück, wo mir einige Biere dabei halfen, meine pseudophilosophischen Zweifel zu ersticken. Dann fuhr ich mit meinem vélib – einem Leihfahrrad – zurück zu meiner Unterkunft. An einer roten Ampel in der Rue de Charonne schaute ich zum 473sten Mal in den Posteingang auf einem Handy. Und da waren sie: zwei E-Mails, die eine von Millochaus Urgroßneffen, die andere von einem Tour-Historiker, an die ein Scan eines Artikels aus dem Miroir Sprint vom Jahr 1947 angehängt war. Der Artikel war mit zwei Fotos von Arsène Florentin Millochau illustriert, der fit und gesund obschon betagt immer noch Fahrräder reparierte, und zwar – und das ist die reine Wahrheit – ausgerechnet in der Rue de Charonne. Auf dem ersten Bild trug er eine Arbeitsjacke und eine Schildmütze wie ein Busschaffner und fuhr auf einem Stadtfahrrad mit geradem Lenker durch die Straßen. »Immer noch munter und mit einem Lächeln bevorzugt ›Papa‹ Millochau sein Rad gegenüber der Métro«, schrieb launig der Miroir Sprint und schaffte es damit, den legendären Tour-Finalisten wie einen durchschnittlichen Pendler erscheinen zu lassen. Das zweite Bild zeigte Arsène, einen fast gnomenhaft kleinen Mann, in seiner Küche, die gleichzeitig als Werkstatt herhalten musste. Die Wände waren mit alten Fahrradteilen, vergilbenden Fotografien, Werbeanzeigen und Rennnummern geschmückt, darunter der von seiner Tour 1903. Dazu kam der Kurbelsatz, den er bei dem allerersten Rennen Bordeaux–Paris verwendet hat. Er untersuchte gerade ein Kettenblatt, das in einen Schraubstock eingespannt war, und sah dabei aus wie ein Anhänger der Zurechthämmern-und-beten-Methode der Fahrradreparatur. Und warum auch nicht? Diese Vorgehensweise