Lanterne Rouge. Max Leonard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Leonard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783955101251
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fahren musste. Diese harten Erfahrungen waren es, die ihn spotten ließen: »Le Tour d'aujourd'hui? Une simple randonnée.« Die Tour von heute? Ein Spaziergang im Park!

      Für seine weiteren Leistungen war Emile Toulouse, der Reporter des Miroir Sprint, ganz Ohr. »Denken Sie nur einmal: Mein Rad wog 33 kg2«, erzählte Millochau von der ersten Tour Bordeaux–Paris, in der er den 28sten Platz erreichte (zurückgehalten wahrscheinlich von seinem äußerst schweren Fahrrad), »ich hatte mich für alle Eventualitäten vorbereitet und mehrere Ersatzteile mitgeführt.« Danach, so fuhr Arsène fort, war er am Start der ersten Paris–Brest–Paris und später bei der ersten Paris–Roubaix im Jahre 1895. Wenn Sie seine Teilnahme an der ersten Tour de France um diese drei Rennen ergänzen – die immer noch unzweifelhaft zu den Klassikern und den prestigeträchtigsten Veranstaltungen ihrer Art zählen –, wirkt Arsène plötzlich nicht mehr wie ein unfähiger Nachzügler, sondern wie ein Vorläufer der Radrennsportler, ein Pionier, der an den meisten wichtigen Veranstaltungen in der Frühzeit des Straßenradsports teilnahm.

      Um Millochau als Menschen kennenzulernen, stöberte ich über eine französische Website zur Ahnenforschung seinen Urgroßneffen Thierry auf. Wie Arsène war auch Thierry gern dazu bereit, Geschichten zu erzählen. In seiner E-Mail schrieb er:

      Onkel Arsène war ein Familienmensch. Was ich von ihm weiß, haben mir enge Verwandte erzählt, die ihn noch selbst kannten. Vor allem meine Großmutter hatte zartfühlende Erinnerungen an ihn. Sie spricht von ihm als von einem gut aussehenden, sportlichen Mann, einem Verführer, der noch lange nach dem Ende seiner Sportlerkarriere von den Damen geschätzt wurde.

      [...]

      Arsène stammte aus einer Familie mit elf Kindern, die wir alle noch kennen. Louis, einer seiner Brüder, ist mein direkter Vorfahr. Arsène war zweimal verheiratet. In der Familie wird erzählt, dass er in seiner Jugend oft lange unterwegs war, um allein auf den Straßen zu trainieren. Außerdem erfand er mechanische Bauteile, die er für die jeweiligen Radrennen anpasste. (Mehr weiß ich darüber jedoch nicht.)

      Seine Teilnahme an der Tour war – zumindest aus der Sicht unserer Familie – ein Unternehmen, das alles andere als ein Fehlschlag war. Er war selbst sehr stolz darauf und keineswegs so zynisch wie die heutigen Sportler. Am Ende seiner Sportlerkarriere blieb er seiner Leidenschaft treu, indem er ein Fahrradgeschäft in Paris eröffnete.

      Ich erinnere mich noch daran, dass ich als Kind einen Zeitungsausschnitt gesehen habe, der sein Geschäft zeigt. In meinen Erinnerungen ist er ein freundlicher, unabhängiger und hart arbeitender Mensch.

      Ich schickte Thierry den Ausschnitt aus dem Miror Sprint, um seine Kindheitserinnerungen wieder wachzurütteln.

      Die E-Mails hatten mir wieder Auftrieb gegeben, sodass ich am nächsten Morgen in die Bibliothek zurückkehrte, bereit dazu, Arsène nach Paris und im Triumph über die Ziellinie zu folgen. In der L'Auto-Ausgabe vom Tag nach der letzten Etappe ist Desgrange, ebenso wie ich, in der Stimmung für Superlative. Seine Fahrer haben ...

      [...] die steilsten Berge, die kältesten und dunkelsten Nächte, die heftigsten und grausamsten Stürme, die ungerechtesten Unglücksfälle in großer Zahl, die längsten Straßen, die endlosen Hügel überwunden ... nichts konnte den eisernen Willen dieser Männer brechen. Heißt das, dass jeder, der gestartet ist, auch das Ziel erreicht hat? Nein. Aber es ist jetzt angebracht, sowohl Sieger als auch Besiegten Beifall zu zollen und mit unseren Gedanken bei denen zu sein, die es nicht bis zum Ende geschafft haben.3

      Am letzten Kontrollpunkt in Ville d'Avray, nur wenige Kilometer vom Velodrome Parc des Princes entfernt, in dem das feierlicheEnde stattfinden sollte, traf Garin als Erster ein, was ihm den Gewinn sicherte. Dort wurde allen Fahrern ein Schild mit der darauf gemalten Gesamtzeit ausgehändigt, mit dem sie dann ohne Zeitdruck zum Velodrom fahren sollten. In den ersten Tagen war es üblich, dass Straßenrennen auf einer solchen Rennbahn endeten, zum Beispiel die Tour Bordeaux–Paris in der Porte Maillot oder die Paris–Roubaix, durch die das Velodrome in Roubaix einen legendären Ruf erwarb. Der Grund dafür lag zum Teil darin, dass diese Ereignisse große Menschenmengen anlockten, durch die die Besitzer der Rennbahn ein erhebliches Plus an Einnahmen aus den Eintrittsgeldern kassieren konnten.4 Am 19. Juli 1903 gab es ein Programm, zu dem unter anderem ein 100-km-Steherrennen und die französischen Geschwindigkeitsmeisterschaften gehörten, um die Zuschauer vor dem Eintreffen der Tourteilnehmer in Stimmung zu bringen. Danach wurden die Fahrer, die sich inzwischen frisch gemacht hatten, in der Reihenfolge des Zieleingangs auf die Rennbahn gelassen, wo sie die Schilder mit ihrer in Avray genommenen Zeit vorzeigten und einige Ehrenrunden drehten.

      Aber Arsène fehlte.

      In der L'Auto-Ausgabe dieses Tages war nicht einmal seine Gesamtzeit vermerkt. Tatsächlich war er nicht einmal in Rambouillet (48 km vor der Ziellinie) und in Versailles (13 km) registriert. In Ville d'Avray hatte er kein Schild ausgehändigt bekommen, und er hatte auch keine Ehrenrunde vor einer jubelnden, begeisterten Menge gedreht.

      Ich fragte mich, ob er einfach seine Sachen gepackt hatte und nach Hause gefahren war oder ob ihm die Ehrenrunden sinnlos vorgekommen waren, weshalb er sich gleich auf den Weg zum Au Reveil Matin gemacht hatte, wo er drei Wochen zuvor aufgebrochen war, um sich eine üppige Mahlzeit und ein Fässchen Wein zu gönnen. Schließlich wurde er in zeitgenössischen Berichten weniger wegen seiner radsportlichen Leistungen erwähnt als wegen seines Hangs, gut zu speisen.

      Nachdem ich die Versuchung überwunden hatte, den Mikrofilm einfach zurückzuspulen und niemandem von dem furchtbaren Geheimnis zu berichten, das ich aufgespürt hatte – am allerwenigsten Thierry –, saß ich einige Minuten lang da und überdachte diese überraschende Wendung und meine Jagd nach Arsène im Allgemeinen. Im Großen und Ganzen überraschte es mich nicht, dass die wahre Identität des ersten Mannes, der als Letzter durchs Ziel gegangen war, irgendwann in Vergessenheit geraten und der Titel einer falschen Person zugeordnet worden war. Eine der Schwierigkeiten, die sich beim Erforschen der Frühgeschichte der Tour stellen, besteht darin, dass die Organisatoren 1940 aus Angst vor den Nazis ihr Archiv zur Sicherheit mit dem Zug nach Südfrankreich transportiert hatten – wo es ironischerweise bei einem Brand völlig zerstört wurde. Zwar hatten sicherlich schon Hunderte die öffentlichen Mikrofilme eingesehen, um Nachforschungen über die Tour zu betreiben, aber wie viele davon hatten sich mit dem hinteren Ende der Gesamtwertung beschäftigt? Nach diesen Quellen sah es so aus, als wäre Arsène gar nicht der erste Träger der lanterne rouge gewesen.5

      Das ernüchterte mich auf einen Schlag. Mein grand projet, in dem es in gewissem Sinne um Fehlschläge gehen sollte, begann selbst mit einem grandiosen Fehlschlag. Wieso hatte ich die Karriere dieses Niemands ausgegraben, anstatt mich mit dem armen Émile Moulin zu beschäftigen, dem letzten Teilnehmer, für den in der L'Auto-Ausgabe zum Abschluss der Tour eine Gesamtzeit vermerkt war? Ich kam mir vor wie ein verrückter Pirat, der versucht, den Nebel am Besanmast festzunageln. Musste ich jetzt wieder von vorn anfangen, aber diesmal mit Émile? Vielleicht hätte ich nicht versuchen sollen, einen Mann gegenüber dem anderen herauszustreichen, der möglicherweise genauso verdienstvoll war. Vielleicht hätte ich einfach alle in der Vergessenheit belassen und stattdessen zu ihren Ehren ein Grabmal des unbekannten Radfahrers errichten sollen.

      Eine nach der anderen überprüfte ich die restlichen »bekannten« Leistungen Arsènes, die von ihm selbst im Miroir Sprint aufgeführt waren, anhand von anderen Quellen. Dabei stellte ich schnell fest, dass er nicht nur in der Presse ebenso schwer fassbar war wie Houdini, sondern auch einen äußerst unzuverlässigen Zeugen für sein eigenes Leben abgab. Die Nr. 28 beim ersten Rennen Bordeaux– Paris war nicht Millochau, sondern jemand mit dem Namen Pierry Tardy. Er stand auch nicht auf den Startlisten für die erste Tour Paris–Brest–Paris (PBP) oder die erste Paris–Roubaix. Vielleicht hat er 1890 wirklich den Rekord für die Strecke Paris–Amsterdam gebrochen (der ebenfalls im Miroir Sprint erwähnt worden war), aber das konnte ich nicht bestätigen. Keine von Arsènes Behauptungen schien der Wirklichkeit zu entsprechen, und es sah gar nicht gut für ihn aus, bis ich mich zur nächsten PBP im Jahr 1901 vorarbeitete, um mich zu vergewissern. Dort stand sein Name tatsächlich auf der Startliste. Noch ermutigender war jedoch die Tatsache, dass er auch auf der Liste der Finalisten zu finden war, und zwar auf einem sehr respektablen 47. Platz.

      Die