Außerdem hatte Desgrange eine Abneigung gegen die von den Herstellern eingeführte Idee, Mannschaften fahren zu lassen. Seiner Ansicht nach verwässerten sie damit den reinen Wettkampfgedanken. Die Hersteller hatten schnell herausgefunden, dass mehrere von ihnen bezahlte Fahrer zusammenarbeiten konnten, um für einen von ihnen das Beste herauszuholen. Es war Desgrange, der 1911 den Begriff domestique – wörtlich ein »Hausangestellter« wie ein Diener oder ein Hausmädchen – für Radfahrer prägte, die für andere arbeiteten, und er meinte dies als eine Beleidigung. Angesichts der jetzigen Schwäche der Hersteller und des Mangels an Ressourcen konnte er die Mannschaftstaktiken aushebeln. Im Rennen von 1919 sah er eine Abkehr »von der bedauerlichen Ungerechtigkeit der Vergangenheit, die es einigen erlaubte, als große Stars an der Tour teilzunehmen, während andere dazu verdammt waren, als Bettler mitzufahren«, wie er schrieb. »Theoretisch hat der unbedeutendste, benachteiligtste Radfahrer, der am stärksten isolierte Einzelfahrer, wenn er nur die entsprechenden Qualitäten mitbringt, die gleiche Chance wie die Fürsten der Pedale, die Stars der Straße.«
Dies war eine Demokratisierung auf autokratische Weise, wie es Desgranges Wesen entsprach. Er war immer auf der Seite des kleinen Mannes, sofern er diesem kleinen Mann das Leben so schwer wie möglich machen konnte. Unter den vielen, vielen Vorschriften hieß es beispielsweise, dass kein Fahrer einem anderen etwas zu essen oder zu trinken, einen Ersatzreifen oder ein Trikot geben oder ihn in seinem Windschatten fahren lassen durfte. Die offiziellen ravitaillements (Verpflegungszonen) standen allen offen, es gab keine musettes (Verpflegungsbeutel) – zu teuer –, und außerhalb der Verpflegungsstationen durfte niemand etwas essen oder trinken, das er nicht selbst gekauft hatte. Ausgenommen davon war nur Wasser aus Pferdetränken, Quellen und öffentlichen Wasserhähnen. Die wenigen Reifen, die es gab, durften während des Rennens nur von offiziellen Mitarbeitern verteilt werden. Desgrange wollte die Tour wirklich so hart wie möglich machen. Die Fahrer sollten in ihrem Elend allein bleiben, heldenhaft allein. Nur ein Mann und sein Fahrrad, vorzugsweise im Regen. Bergauf. Mit einer gebrochenen Speiche und am besten mit einem Wolf. Es war eine geradezu nietzscheanische Vorstellung von Ertüchtigung: Bei der idealen Tour gelingt es nur einem einzigen Fahrer, die gesamte Strecke zu absolvieren.
Die von 1919 sollte ein harter Überlebenskampf werden.
Nachdem er mit dem Krieg, den Herstellern und jeder Art von Güte und Mitgefühl abgerechnet hatte, war Desgrange bereit, das Rennen zu starten. (Er hatte sich 1917 im Alter von 52 Jahren übrigens freiwillig gemeldet und war erst kürzlich aus dem Kriegsdienst entlassen worden.) Gegen die Mitglieder von La Sportive, die »A-Fahrer«, traten die nicht gesponserten Fahrer mit der nicht unbedingt leistungsorientierten Bezeichnung »B« an, die im Grunde genommen den isolés der Vorkriegsjahre entsprachen. Es waren offizielle Preise nur für B-Fahrer ausgelobt, um sie zur Teilnahme zu ermutigen, und ihnen wurde eine Entschädigung von 20 Franc täglich geleistet, doppelt so viel, wie die A-Fahrer bekamen.
Zuerst schrieben sich hauptsächlich B-Fahrer ein, was vielleicht an dem Durcheinander der Sponsorenvereinbarungen für die A-Fahrer lag. Allerdings meldeten sich schließlich alle verbliebenen großen Namen des Radsports und alle aufstrebenden Jungstars an: Odiel Defraye, Eugène Christophe, Firmin Lambot sowie die Brüder Francis und Henri Pélissier, die später die Tour 1924 als Protest gegen Desgranges Despotismus verlassen sollten. Weniger umjubelt war ein gewisser Jules Nempon aus Calais, der sich auch erst kurz vor Toresschluss einschrieb. Vor dem Krieg hatte er sich schon bei einigen kleineren Rennen gut geschlagen und bei den Touren Paris–Le Mans und Paris–Beaugency Plätze unter den ersten Zehn erreicht. Bis zum Ende seiner Karriere sollte er insgesamt zehn Mal bei der Tour de France antreten. Dennoch wurde er zur Kategorie B eingeteilt, was trotz seiner bisherigen Leistungen nicht ungewöhnlich war: Aufgrund des Krieges war die Rennsportkarriere aller Teilnehmer sehr bruchstückhaft.
Am Tag vor dem Beginn des Rennens zeigt die Titelseite von L'Auto ein Gruppenfoto der Tourkandidaten. Genau in der Mitte ist Jules zu sehen, eine Figur wie aus einem Roman von Charles Dickens. Sein Gesicht ist schmal und wird von einer großen, flachen Mütze überschattet, ein kleiner Schnurrbart prangt über seinem schiefen Lächeln, und um seinen Mund ist ein leichter nagetierhafter Zug. Sein Blick hat etwas Melancholisches an sich. Er ist 29 Jahre alt, wiegt 61 kg und fährt ein Rad mit einer »5 m 50 cm«-Übersetzung.11
Insgesamt schrieben sich 130 Fahrer ein, aber nur 69 traten an der Startlinie an, was größtenteils am Reifenmangel lag. Von diesen 69 wiederum schafften es nur 68, von dem feierlichen Start auf der Place de la Concorde in einem Stück zum scharfen Start (départ réel) in Argenteuil zu kommen: Francis Pélissier stürzte während des neutralisierten Starts und brachte zwei Stunden damit zu, sein Rad zu reparieren. Seine Hoffnungen waren schon zunichtegemacht, bevor er auch nur einen Kilometer zurückgelegt hatte. Damit war er sicherlich der Hauptkandidat für die Prämie von 15 Francs, die ehemalige Soldaten in Sainte-Adresse, knapp außerhalb des Etappenziels Le Havre, dem Pechvogel des ersten Tages in Aussicht stellten. Gerade die Soldaten zeigten viel Mitgefühl für die Härten, die die Teilnehmer durchmachten, was möglicherweise daran lag, dass ein Großteil der Radfahrer an ihrer Seite gekämpft hatte. Die Kriegsteilnehmer unter den Radfahrern hatten keine Zeit gehabt, sich nach den fünf Jahren, in denen sie nicht Rad gefahren waren, in Form zu bringen, und es war keine neue Generation junger Radler nachgerückt. All dies trug zu der hohen Ausfallrate bei.
26 Fahrer gaben auf, bevor sie Le Havre erreichten – 18 davon waren B-Fahrer, und insgesamt war dies mehr als ein Drittel des Gesamtfelds. Unter ihnen befand sich sogar der zweimalige Toursieger Philippe Thys, der aufgrund einer Krankheit kurz vor Le Havre aufgeben musste. Jean Rossius, ein belgischer Landsmann, hatte Mitleid mit ihm und ihm etwas zu essen gegeben, wofür er 30 Strafminuten erhielt und damit seinen Vorsprung im Rennen verlor. Jules dagegen war entschlossen, weiterzumachen. Er kam als 20ster am Etappenziel an, ziemlich am Ende des Feldes. Allerdings war er der Erste von allen B-Fahrern.
Während der dreitägigen Fahrt entlang der Nordküste von Paris über Le Havre und Cherbourg nach Brest stürmte Gegenwind auf die Fahrer ein. Unter dem Eindruck, die ganze Welt habe sich gegen sie verschworen, gaben die gefeierten Gebrüder Pélissier in Brest im strömenden Regen auf. Auf dieser Etappe bildete Henri Leclerc das Schlusslicht. Er kam erst gegen Mitternacht ans Ziel und verbrachte seinen ganzen Ruhetag im Bett. Auf 200 der 412 km der nächsten Etappe blieb Nempon spielend in der Spitzengruppe, weshalb ein Korrespondent ihn zu einem todsicheren Tipp für die Kategorie B erklärte und begeistert ausrief: »Meiner Treu, ich gewahrte ihn in hervorragender Kondition!« Nempon ging jedoch schließlich als Letzer ins Ziel, zuvor war er allerdings drei Stunden lang Alois Verstraeten voraus gewesen, seinem nächsten Rivalen der Kategorie B.
Am Fuß der Pyrenäen, die die Fahrer nach zwei endlos langen Etappen entlang der Atlantikküste erreichten, hatten das furchtbare Wetter und der unmögliche Straßenzustand das Feld auf nur noch 25 Mann ausgedünnt, ein Drittel derjenigen, die in Paris aufgebrochen waren. Géo Lefèvre erklärte dies zur »schönsten Tour de France, die ich je gesehen habe«. Seine Reportagen waren anzüglich und sadistisch, und er übertrieb bewusst die Dramen, die sich auf der Straße abspielten. Viele der klassischen Bilder von Leid, Ausdauer und Entschlossenheit, die unser Bild der Tour prägen, nahmen mit der Berichterstattung über diese Tour ihren Anfang – die hohlwangigen Gesichter, die schweißüberströmten Brauen, die angespannten Muskel und der Ausdruck von tiefster Erschütterung –,