Steintränen. Manja Gautschi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manja Gautschi
Издательство: Bookwire
Серия: Steintränen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742797964
Скачать книгу
riss Zylin den Knebel aus der Hand des jungen Mannes, warf das Ding zum Erstaunen seines Angreifers einfach nur zu Boden, griff dessen nun leere Hand, oder besser dessen Ring- und Kleinfinger, die er ihm nach hinten bog und einfach brach. Das Knacken der Knochen gab Zylin plötzlich eine kleine Befriedigung, kompensierte ein klein wenig seiner Wut, die durch die Aggressionen der Männer zusätzlich angeheizt worden war. Wie ein kleiner Schalter wirkte das Knacken.

      Es ging weiter.

      Im Flur vor der Zelle konnte man weitere Schritte und Stimmen hören. Einer kam in die Zelle herein. Vorbei am vor Schmerzen vor ihm knienden jungen Mann mit den gebrochenen Fingern ging Zylin umgehend auf den neuen Gast zu. Fasste ihn, stiess ihn kraftvoll an die Wand neben der Tür, hielt in fest.

      „He! Beruhig dich. Ich bin’s!“ sagte Martin, Zylin drückte noch etwas mehr, Martin wurde leiser, Zylin drückte ihm allmählich die Luft ab, Martin keuchte „Der nette Martin. Weißt du noch?“ Natürlich erkannte ihn Zylin. Er verharrte. Das Fingerknacken und nun Martins ruhige, nicht aggressive Ausstrahlung dämpften Zylins Wut allmählich. Langsam, aber die Ruhe kehrte zurück, soviel spürte er. Er hatte sich genug ‚austoben’ können, für den Augenblick.

      In dem Moment erschien Janus mit der gezogenen Betäubungspistole.

      Und nun standen sie da. Bis sich eine Frauenhand auf Janus Schulter legte und Petra ihren Kopf in die Zelle hereinstreckte, sich umsah „Oje.“ kommentierte sie „Da hab ich mal einen Tag frei und lass euch Jungs alleine und ihr macht sowas.“ bemerkte sie keck und absolut unbeeindruckt von der Szene, die sich ihr bot.

      „Ah...“ seufzte Zylin und liess ab von Martin. Senkte seinen Blick, drehte sich um, machte ein paar Schritte und setzte sich gegen die Rückwand der Zelle auf den Boden, wo er mit angewinkelten Knien und weiter gesenktem Blick sitzen blieb. Janus sah Martin fragend an, der ihm ruhig befahl „Nicht schiessen, behalt ihn einfach im Auge solange wir hier aufräumen.“ Janus nickte, machte endlich einen Schritt in die Zelle hinein um den Durchgang durch die Tür frei zu geben für Petra und die anderen Wärter, die nun hereinkamen um aufzuräumen, oder besser ihren Kollegen zur Krankenstation zu helfen.

      Martin sah sich um, stellte die Frage in den Raum „Was ist denn geschehen?“, bekam aber keine Antwort. So wendete er sich dem jungen Mann mit den gebrochenen Fingern zu, dem er half aufzustehen, während sich Petra um Fred, den Idioten, kümmerte. Er war immer noch bewusstlos und sein Kopf sah hässlich aus: Blut, geschwollen. „Ich denke wir bewegen ihn nicht bis André da ist, falls an der Wirbelsäule was gebrochen ist.“ meinte sie.

      „Nein.“ mischte sich Zylin ein, Petra und Martin sahen ihn erstaunt an. „Was?“ fragte Petra, die näher bei ihm stand „Es ist nichts gebrochen.“ antwortete er „Ausser der Nase.“ fügte er an „Vermutlich eine heftige Gehirnerschütterung und ein paar Beulen.“ „Bitte? Woher willst gerade du das wissen?“ Petra war neugierig und ignorierte Martins Kopfschütteln. Zylin sah sie an und Martin fürchtete, dass Janus doch noch schiessen muss. Aber Zylin antwortet bloss ganz ernsthaft „Weil ich es gehört hätte und zudem war ich vorsichtig.“ überrascht zog Petra die Augenbrauen hoch „Vorsichtig?! .... Gehört?!“ sie schüttelte den Kopf, zeigte mit dem Finger auf ihre Schläfe „Ich glaube, Beni hat dir zu heftig eine an die Birne gehauen, mein Schatz.“ und damit beendete Petra das Gespräch. André der Gefängnisarzt erschien im Türrahmen.

      Petra nannte Zylin oft ‚mein Schatz’. Sie hatte ihre ganz eigene Art und konnte es am besten mit ihrem besonderen Gefangenen. Darum liess ihr Martin in der Regel freie Hand im Umgang mit Zylin. Leider hatte sie heute eigentlich ihren freien Tag, weshalb nicht sie die Begleitung zum Besucherraum ausgeführt hatte, sondern Fred und Domic. Wie bei Martin war wohl auch bei ihr der Respekt, das Vertrauen und die stets ruhige gekonnte Art gegenüber Zylin der Grund dafür, dass es meist zu keinen so ernsthaften Konflikten wie eben kam. Als Martin vom Alarm gehört hatte, liess er Petra deshalb kommen, für den Fall der Fälle. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt um die Uniform anzuziehen und stand nun in ihren zivilen legeren Hosen und einer lockeren Bluse da. Sie war eine grosse kräftige sehr gepflegte Frau mittleren Alters. Kurzes braunes Haar und eigentlich immer freundlich, aber konsequent und mutig.

      Nachdem die Zelle geräumt und vom Blut gesäubert worden war, wartete sie im Türrahmen auf Martins Anweisung zum Fixieren des Gefangenen. „Mischa?“ fragte er sie und Petra nickte „Kommt gleich, sobald er im 1 mit dem Einschluss fertig ist.“ „Gut, danke.“ Petra hielt Martin am Arm und flüsterte „War übrigens wirklich nichts gebrochen.“ Martin nickte zur Bestätigung, dann liess sie los.

      Martin wollte vorher mit Zylin sprechen, der immer noch ganz ruhig mit gesenktem Kopf auf dem Boden sass. Janus stand zwei Meter vor ihm, unterdessen entspannt, aber mit geladener Betäubungspistole in der Hand. Martin legte Janus die Hand auf die Schulter „Du kannst uns jetzt alleine lassen. Danke.“ „Sicher?“ Martin nickte und Janus verliess zögerlich die Zelle.

      Eine Zelle der Abteilung 3 bestand aus 6 Wänden: Wand mit Tür und Kamera, ziemlich hohe Decke mit LED-Lichtern, links und rechts Wände mit Vorrichtungen für die Befestigung von Ketten und Infusionen, ein Boden, der in der Mitte einen ebenen selbstreinigenden Abfluss hatte, links und rechts davon nochmals Vorrichtungen fürs Befestigen von Fussfesseln und eine Rückwand an der nichts war ausser der weissen Pulverbeschichtung, wie an allen Wänden, zur einfachen gründlichen Reinigung. Abteilung 3 war nämlich nur gedacht um ganz hartnäckige Insassen für maximal ein paar Tage stehend zu fixieren, per Magensonde zu ernähren, über die Flüssigkeitsinfusion mit genügend Flüssigkeit zu versorgen und mit Aktivphasen alle drei Stunden wach zu halten. Die Aktivphasen waren nichts anderes als über die Fesseln durch den gesamten Körper geleiteter Strom, der wachhielt und die Muskulatur stimulierte, damit sie sich nicht abbaute und der Gast nicht einschlief. Er soll geschwächt werden und Zeit zum Nachdenken erhalten. Ein geschwächter Gefangener ist einfacher zu handhaben als ein topfitter, so einfach. Mundfesseln gab es obendrein als Strafe von Beleidigungen, zur Sicherheit bei Beissern und bei zu viel Herumgeschreie. Aus Langeweile gab es manchen, der anfänglich stundenlang lauthals mit irgendwelche Unschönen Dinge den Wärtern auf die Nerven ging mit Dingen wie „Ihr blöden Fixer kriegt mich nicht klein!“ „Wartet bis ich wieder draussen bin!“ „He, lasst mich raus!“ „Das dürft ihr nicht, ihr Arschlöcher!“ und so weiter. Am schlimmsten waren Pseudogesänge, die mehr einem Geschrei glichen denn einem Lied. Das wurde dann eben mit einer Mundfessel abgestellt.

      Irgendwann resignierten die meisten und vermieden es, je wieder Zeit in Abteilung 3 zu verbringen, was natürlich nicht allen gelang, weshalb es an Besuchern in Abteilung 3 stets nicht mangelte. Schliesslich war Sarg Endstation und Auffangbecken aller abgeschobenen schwer umgänglichen Sträflingen des Terra Sonnensystems.

      Zylin Sa hatte bisher als Einziger einen Stammplatz in Abteilung 3 erhalten. Vor ein paar Jahren hatten der Direktor Paul Hashimi-Ska und sein Sicherheitsleiter Martin Herren beschlossen, Sa weder in die Abteilung 1 noch in die 2 zurückzuverlegen, sondern in Abteilung 3 zu belassen. Denn kaum war er jeweils draussen, vergingen maximal drei bis vier Tage und Martin musste ihn wieder einkassieren. In der Regel nicht ohne ein oder mehrere Patienten bei André, dem Gefängnisarzt, abzuliefern. Wärter oder Mitgefangene, je nachdem, was gerade das Problem gewesen war. „Ich bin kein dressierbarer Hund.“ meinte Zylin und „Ich werde keinen Regeln folgen, denen ich nicht folgen will. Also vergiss es.“ war einst seine Antwort auf Martins Frage, warum er sich nicht wie die anderen einfach dem Tagesablauf der Anstalt fügen könne, sei ja nicht so schwer. Zylin hingegen wollte essen oder zurück in die Zelle wann er mochte, wenn das Martin nicht passe, sei das sein Problem, er habe den Tagesablauf nicht gemacht. Oder einer der Mitinsassen hatte es eine gute Idee gefunden, den grossen Typen mit den langen Haaren, aus irgendeinem Grund blöd anzumachen.

      Mit Zylin in Abteilung 3 hielten sich nun zumindest die Turbulenzen im Rahmen und Kollateralschaden wurde zum Grössten Teil vermieden. Auch für Zylin war diese Lösung