Lebendkontrolle. Heike Bicher-Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Bicher-Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742737861
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nichts ändern.

      „Ja, ich denke, ich werde jetzt schlafen gehen. Ich hab schließlich einen anstrengenden dreistündigen Arbeitstag hinter mir“, versuchte ich es mit einem Scherz, der aber nicht zündete. Nina kam mit besorgtem Blick näher und blieb dicht vor mir stehen.

      „Was haben Sie gerade getan.“

      Ich schüttelte den Kopf und straffte die Schultern, versuchte, mich möglichst groß zu machen, damit sie nicht auf den Tisch sah. Dumm von mir, das fiel ihr natürlich sofort auf.

      „Treten Sie bitte zur Seite, Herr Kanter, ich möchte mich in Ihrer Zelle umsehen.“

      „Bitte, tu das nicht“, bat ich mit rauer Stimme.

      „Wenn es Ihnen lieber ist, hole ich Herrn Tellmann, damit er das erledigt.“ Ihre Stimme war weich, beinah ein Streicheln. Ich schloss die Augen und trat beiseite.

      „Ist das Ihre Freundin?“, fragte sie und mir war klar, dass sie jetzt gleich völlig falsche Schlüsse ziehen würde, aber ich würde sie nicht korrigieren.

      „Meine Frau, Jessie.“

      „Oh, ich wusste nicht, dass Sie verheiratet sind.“

      „Ich war verheiratet, jetzt bin ich es nicht mehr.“

      „Es ist schön, dass sie Ihnen trotzdem noch schreibt. Sie vermissen sie wohl sehr.“

      „Ich wünsche mir nichts mehr, als dass sie noch hier wäre.“ Als ich fühlte, wie ihre Hand über meinen Oberarm strich, sah ich auf.

      „Es wird besser, Julian. Irgendwann kommen Sie hier raus und dann bringen Sie es wieder in Ordnung. Sie müsste blind, taub und herzlos sein, wenn sie Ihnen nicht wenigstens zuhörte.“

      Ich wollte ihr diese Seite von mir nicht zeigen, aber ich war nach dem Lesen der Briefe so am Ende, dass ich nicht anders konnte. Tränen liefen über meine Wangen und ich zog sie in die Arme. Zögernd legte sie die Hände an meine Taille und ich atmete ihren süßen Geruch ein.

      „Tut mir leid, ich wollte nicht, dass Sie mich so sehen“, murmelte ich, ließ sie aber nicht los. Zu gut fühlte sich ihre Nähe an. Liebevoll strich sie mit den Händen über meinen Rücken.

      „Schon gut. Wir haben alle mal einen Durchhänger, ich verstehe das besser, als Sie vielleicht denken.“

      „Danke für das hier. Ich weiß, dass Sie sich in fünf Minuten darüber ärgern werden, dass Sie schon wieder ein Tabu gebrochen haben.“

      „Nein, das werde ich nicht.“

      „Lügnerin.“

      „Okay, vielleicht ein bisschen. Aber es fühlt sich trotzdem richtig an.“

      Ich zwang mich, die Umarmung zu lösen und schob sie vorsichtig von mir.

      „Gehen Sie nach Hause. Machen Sie einen drauf und genießen Sie ihr Leben. Sie sollten sich nicht von mir runterziehen lassen.“

      „Sie ziehen mich nicht runter. Ich bin so froh, dass Sie sich entschieden haben, mit mir weiterzuarbeiten und Fortschritte machen. Manchmal muss man eben nochmal einen Schritt zurück treten, bevor es dann wieder zwei nach vorn geht.“

      „Berufsoptimismus?“

      „Weisheit, schließlich bin ich schon achtundzwanzig Jahre alt.“

      „So jung?“

      „Wie alt sind Sie denn?“

      „Fünfunddreißig, aber manche Jahre davon zählen für zehn.“

      „Gute Nacht, Julian, wir sehen uns morgen.“ Sie legte ihre Hand an meine Wange und ich lehnte mich in die Berührung und dann war sie fort. Ließ mich allein mit den Fotos von Jessie und den Briefen, die ihr Gift in meinen Adern verteilten. So, wie es sein sollte.

       Nina

      Auch wenn es für Julian wieder eine Nacht mit wenig Schlaf wurde, bat ich die Kollegen von der Nachtschicht, regelmäßige nach ihm zu sehen. Tom hörte mit gerunzelter Stirn zu und schrieb dann einen offiziellen Auftrag ins Wachbuch. Lebendkontrollen alle zwei Stunden.

      „Kanter geht dir unter die Haut“, stellte Tom fest, als wir gemeinsam zum Parkplatz gingen.

      „Ja, das tut er.“

      „Pass auf dich auf und halt emotionalen Abstand. Du tust ihm keinen Gefallen, wenn du seine Freundin spielst.“

      „Das mache ich doch gar nicht. Wir reden nur und er öffnet sich langsam.“

      „Und warum sorgst du dich dann heute so um ihn, dass du ihn die ganze Nacht überwachen lässt?“

      „Es kann einen fertigmachen, über Dinge zu reden, die einen berühren. Aber wenn man da durch ist, geht es einem besser. Das kennst du doch bestimmt auch.“ Er schnaubte abfällig.

      „Ich bin ein Kerl. Wir gehen mit den Kollegen was Trinken und am nächsten Morgen ist der Kater unser einziges Problem.“

      „Ja klar, rede dir das nur ein.“

      „Du könntest es ja mal auf meine Weise probieren. Komm, wir gehen was trinken.“

      „Danke für das Angebot, aber ich gehe jetzt lieber nach Hause. Ich hab morgen Frühschicht.“

      „Dann sehen wir uns morgen.“ Tom wartete, bis ich in mein Auto stieg, bevor er zu seinem Wagen weiter ging. Er war wirklich ein netter Kerl und hatte eine Chance verdient, aber ich konnte mich im Augenblick nicht auf ihn einlassen.

      Kapitel 7

       Nina

      Als ich Julians Zelle am nächsten Morgen zur Frühstücksausgabe aufschloss, stand er wieder direkt hinter der Tür. Mit schlechtem Gewissen nahm ich die dunkeln Schatten unter seinen Augen zur Kenntnis, aber er lächelte mich an.

      „Guten Morgen, Frau Larsen, hatten Sie einen schönen Abend?“

      „Guten Morgen, Herr Kanter. Damit ich es um sechs zum Dienst schaffe, muss ich leider früh schlafen gehen.“ Ich ließ ihn aus der Zelle und er ging ein Stück Richtung Essensausgabe, dann drehte er sich nochmal um.

      „Nach dem Frühstück machen wir doch weiter, oder?“

      Ich nickte. „Ich hole Sie ab.“

       *

      „Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese unruhige Nacht beschert habe, aber ich habe mir Sorgen um Sie gemacht“, sagte ich, als wir allein in der Bibliothek waren und Julian den Rechner hochfuhr.

      „Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen.“

      „Es ist nicht lange her, dass Sie uns allen Grund zur Sorge gegeben haben.“

      „Das war dumm und wird nicht mehr vorkommen.“

      „Warum haben Sie es sich anders überlegt?“

      „Das wäre zu leicht… Aber wenn die Lämmer wieder schweigen, bin ich mit einer Frage dran.“

      „Fragen Sie, Agent Julian.“

      „Warum ist ihre Verabredung mit Tellmann kein Date? Er mag Sie.“

      Das zu meinem gestrigen Vorsatz, mein Liebesleben nicht mit Häftlingen zu diskutieren.

      „Er ist mein Boss und außerdem ist mir noch nicht wieder nach einer neuen Beziehung.“

      „Wer hat Ihnen das Herz gebrochen. Ich merke mir den Namen und statte ihm einen schmerzhaften Besuch ab, wenn ich entlassen werde“, sagte er und lächelte mich an.

      „Danke für das nette Angebot, aber ich habe ihn verlassen, nicht er mich. Kein Grund also, ihn leiden zu lassen.“

      „Und warum dann die Zurückhaltung bei dem schönen Tom?“