Lebendkontrolle. Heike Bicher-Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Bicher-Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742737861
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      Schlecht gelaunt betrat ich das Aquarium kurz vor Schichtbeginn um 14.00 Uhr. Normalerweise tröstete mich meine Arbeit über mein nicht vorhandenes Privatleben hinweg, aber der gestrige Misserfolg hatte mir nicht mal das gelassen. Christian Rau packte gerade seine Sachen zusammen, um nach Hause zu fahren.

      „Hallo Christian. Wer hat heute mit mir Dienst?“

      „Der Chef“, sagte er und deutete auf einen der Beobachtungsmonitore, auf denen Tom zu sehen war. Christian hatte schon die Tasche in der Hand, als er sich nochmal an mich wandte.

      „Ich soll dir von Kanter ausrichten, dass er gern weiter in der Bibliothek arbeiten möchte. Ich weiß ja nicht, wie du das gemacht hast, aber er scheint langsam aufzutauen.“

      Perplex sah ich ihm nach, damit hatte ich nicht gerechnet und meine Laune hob sich sofort merklich.

      „Hallo Lieblingskollegin. Was zaubert denn dieses liebenswerte Lächeln auf dein Gesicht? Ich hoffe, es ist die Tatsache, dass du heute mit mir arbeiten darfst“, sagte Tom grinsend und warf sich lässig auf einen Stuhl.

      „Bilde dir bloß nichts ein. Das liegt nur am herrlichen Sonnenschein und der Tatsache, dass ich heute ausschlafen konnte.“ Tom Tellmann legte beide Hände auf sein Herz und spielte mir einen unglaubwürdigen Herzinfarkt vor, bevor er wieder breit grinste.

      „Hast du schon nachgesehen, was Samstag im Kino läuft?“, fragte er. Ich schüttelte verneinend den Kopf.

      „Ich sehe nach und sag es dir später, okay?“

      „Ja. Ich geh dann mal wieder in die Bibliothek.“

      „Du machst deine Arbeit wirklich gut, Nina. Bisher ist noch keiner an Kanter rangekommen und er scheint sich durch die Arbeit mit dir positiv zu entwickeln.“

      „Danke. Es bedeutet mir viel, dass du das sagst.“ Und das tat es tatsächlich.

      Schon als ich den Schlüssel in der Zellentür mit der Nummer sieben drehte, merkte ich, dass sich meine gestrige Bestechungsaktion per Schokoriegel bei unserem Hausmeister ausgezahlt hatte. Fast lautlos öffnete sich das Schloss. Diesmal erschrak ich nicht, als Kanter direkt hinter der Tür stand. So schnell würde ich mich nicht wieder von ihm aus der Fassung bringen lassen.

      „Hallo, Herr Kanter, bereit für die Arbeit?“, fragte ich und trat beiseite, aber er machte keine Anstalten, die Zelle zu verlassen.

      „Danke“, sagte er und wies auf das Schloss.

      „Gern geschehen.“ Ich konnte das Strahlen nicht unterdrücken und nach einem Moment erwiderte er mein Lächeln.

      „Können wir dann?“, fragte ich und er ging vor mir in Richtung Bibliothek.

      Kanter schien heute guter Stimmung zu sein, vielleicht öffnete er sich mir ja noch etwas weiter.

      „Und, worüber sollen wir uns heute unterhalten?“, fragte ich, um nicht wieder unbeabsichtigt ein heikles Thema anzuschneiden und setzte mich zu ihm an den Tisch.

      „Ich beantworte Ihre Fragen, wenn Sie mir meine beantworten“, sagte er und lächelte. Der Anblick war so ungewohnt, dass ich ihn beinah nicht wiedererkannte.

      „Einverstanden. Aber bevor Sie wieder sauer werden, wenn ich eine Frage stelle, die Ihnen nicht gefällt, sagen Sie passe. Okay?“ Er nickte und ich fuhr fort: „Erste Frage. Sind Sie ein Außerirdischer, der den Körper von Julian Kanter übernommen hat?“

      Er grinste.

      „Passe!“

      „Oh, da hab ich jetzt aber wirklich Angst vor Ihnen. Los, Sie sind mit Fragen dran.“ Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

      „Sie wollen das wirklich durchziehen, so wie in Das Schweigen der Lämmer?“

      „Gut, dann hab ich eben Angst vor Ihnen, weil Sie ein genialer Kannibale sind.“

      „Ich dachte, ich bin der junge, gutaussehende FBI Agent und Sie die kannibalische Serienmörderin.“

      „Natürlich, die Rolle passt gut zu mir, aber ich hoffe, Sie kommen nicht wegen meiner Ähnlichkeit mit Antony Hopkins auf diese Rollenverteilung.“

      „Nein, ich denke, deshalb müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

      Ich nahm das erste Buch in die Hand und wartete, dass er eine Frage stellte, aber er blieb still. Dann würde ich eben anfangen.

      „Warum haben Sie sich entschieden, weiter mit mir zu arbeiten?“ Es war riskant, gleich mit so einer tiefgehenden Frage anzufangen, aber seine gute Laune machte mich mutig.

      „Das Schloss“, sagte er schlicht und ich musste erst einen Moment darüber nachdenken, bevor mir klar wurde, was er meinte.

      „Das Geräusch hat Sie wirklich gestört, was?“

      „Ich bin dran. Warum haben Sie mich ausgesucht?“, fragte er.

      „Ich mag Herausforderungen und ich denke, Sie sind eine von den ganz Großen, Herr Kanter.“

      „Julian“, sagte er und blickte direkt in meine Augen.

      „Ich weiß nicht, ob das gut ist. Wäre nicht sehr professionell.“

      „Nur während wir FBI Agent und Serienmörderin sind. Bitte.“

      Scheiß auf die Professionalität, dachte ich mir.

      „Also gut, Agent Julian.“

      „Ich kenne nicht mal Ihren Vornamen“, sagte er und ein dunkler Schatten legte sich über seine Augen.

      „Nina, mein Name ist Nina.“

      „Dr. Nina Lecter, es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen.“ So schnell der Schatten aufgezogen war, so schnell war er wieder verschwunden.

      „Warum sind Sie ins Saarland gekommen, Nina?“

      „Wegen des Jobs. Warum reden Sie mit niemandem?“

      „Weil ich nichts zu sagen habe.“

      Ich sah ihn abschätzend an.

      „Ich verstehe schon. Also fange ich mit meiner Antwort nochmal von vorn an.“

      Julian nickte und lächelte. Er würde mich nicht mit oberflächlichen Antworten davonkommen lassen, wenn ich Tiefgründiges von ihm erwartete.

      „Als meine Eltern vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen, hat mich das ziemlich aus der Bahn geworfen. Statt wie geplant meinen Master in Sozialpädagogik zu machen, hab ich eine Ausbildung zur Justizvollzugsbeamtin gemacht und da es nach der Ausbildung keine Stelle in der Nähe gab, hab ich meine Zelte im Ruhrgebiet komplett abgebrochen und bin her gezogen. Also, Julian, warum reden Sie mit niemandem?“

      Er sah mich ernst an und nickte. Für meine Offenheit würde ich eine ehrliche Antwort von ihm erhalten, aber es fiel ihm offensichtlich schwer, diese in Worte zu fassen.

      „Weil ich die Ablenkung nicht verdiene.“

      „Das verstehe ich nicht.“

      Er presste die Kiefer so fest zusammen, dass man das Spiel der Wangenmuskeln sah, als er mich anblickte.

      „Sie wissen wirklich nicht, was ich getan habe“, stellte er leise fest.

      „Ich möchte es nur wissen, wenn Sie es mir erzählen.“

      Er schüttelte den Kopf.

      „Ist schon in Ordnung. Wir müssen nicht darüber reden, aber ich bin da, wenn Sie sich eines Tages anders entscheiden.“

      Er sah auf seine Hand und erst jetzt merkte ich, dass ich meine daraufgelegt hatte. Ich wollte sie zurückziehen, aber er drehte seine schnell um und hielt mich fest. Vorsichtig strich er mit dem Daumen über meinen Handrücken.

      „Es ist mir egal, was Sie getan haben. Ich freue mich, dass Sie überhaupt mit mir reden, es müssen nicht gleich die