Lebendkontrolle. Heike Bicher-Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Bicher-Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742737861
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Schmetterlinge in meinem Bauch auf und ich zog erschrocken die Hand zurück. Was tat ich denn da? Ich musste dringend hier raus. Fahrig stand ich auf.

      „Ich denke, wir sollten eine kleine Pause machen. Ich hole uns einen Kaffee.“

      Bevor er antwortete, war ich schon aus dem Raum geflohen und den halben Gang zu den Waschräumen hinunter. Als mir einfiel, dass ich vergessen hatte abzuschließen, lief ich schnell zurück und holte das nach. Dann flüchtete ich in die Damentoilette.

      Aus dem Spiegel blickte mir eine Frau mit großen, erschrockenen Augen und geröteten Wangen entgegen.

      „Scheiße, bin ich echt so verzweifelt, dass ich schon Häftlinge anmache?“, flüsterte ich und wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser. Lange konnte ich nicht fortbleiben, ich durfte Julian nicht allein in der Bücherei lassen, schließlich waren noch nicht alle Kartons kontrolliert und es konnte sonst was rumliegen.

      So, wie sich Julian verhielt, war die Suizidgefahr keinesfalls gebannt und ich machte das Ganze mit meinem pubertären Verhalten nur noch schlimmer. Wie konnte ich nur mit einem Gefangenen Händchen halten? Und ihm war dabei nicht der geringste Vorwurf zu machen, schließlich hatte ich damit angefangen.

      Als ich mich einigermaßen gefangen hatte, ging ich zurück zur Bibliothek. Julian hatte sich keinen Millimeter bewegt, seit ich den Raum verlassen hatte. Er lächelte wissend und sah auf meine leeren Hände. Mist, den Kaffee hatte ich vergessen. Ich drehte mich um und wollte den Raum wieder verlassen, aber er war mit drei Schritten bei mir und hielt mich am Arm zurück. Gequält sah ich ihn an.

      „Es ist alles okay. Sie müssen keine Angst haben, dass ich etwas in Ihr Verhalten hinein interpretiere, was nicht da ist. Ich bin ein Häftling und Sie tun ihren Job, indem Sie sich mit mir beschäftigen.“

      Ich wollte ihm widersprechen, ihm sagen, dass er für mich mehr als irgendein Gefangener sei, er sollte sich nicht wie eine Nummer fühlte, aber er bot mir einen so einfachen Ausweg aus meiner Misere, dass ich nicht widerstand.

      „Ja, interpretieren wir nichts hinein. Vielleicht arbeiten wir einfach noch etwas weiter, sonst werden wir mit dem Bücherberg niemals fertig“, sagte ich feige.

      In den nächsten zwei Stunden arbeiteten wir schweigend. Ich hatte bereits drei Kartons kontrolliert und auch Julian kam mit der Erfassung in der Datenbank gut voran. Nur langsam ließ meine Spannung nach und ich warf immer wieder verstohlene Blicke auf den Mann am Computer. Julian sah kaum von seiner Arbeit auf.

      Als die Tür geöffnet wurde, war ich von dem plötzlichen Geräusch so überrascht, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Tom kam in die Bibliothek und grinste mich an.

      „Kann ich dich mal kurz sprechen?“ Ich nickte und folgte ihm auf den Flur, die Tür ließ ich einen Spalt offen.

      „Wie läuft es mit ihm?“, fragte Tom.

      „Oh, gut. Wir kommen voran.“

      „Ja, du machst das wirklich toll, hab ich dir ja schon gesagt. Ich hab mir das Kinoprogramm angesehen. Es läuft Ein ganzes halbes Jahr und so ein Action-Streifen. Ich dachte, du möchtest den schmalzigen Frauenfilm sehen.“

      „Nett von dir, dass du dich opfern willst, aber Action ist mir lieber.“

      „Ja, Dramen haben wir hier ja genug.“ Er sah auf die Tür zur Bibliothek, aber ich konnte seinen Blick nicht deuten.

      „Wann läuft der Film?“, fragte ich.

      „Um acht Uhr geht es los. Möchtest du vorher etwas mit mir essen gehen?“

      „Oh, das hört sich aber schwer nach einem Date an. Ich dachte, wir gehen nur als Kollegen ins Kino.“

      „Auch Kollegen müssen essen, aber wenn du nur ins Kino willst, hole ich dich um halb acht ab. Du wohnst doch in der Innenstadt?“

      „Ja, in dem Apartmenthaus an den Kasematten. Nummer sieben. Kannst du dir das merken, oder soll ich dir die Adresse aufschreiben. Sieben wie die Zellennummer von Kanter.“

      Tom sah mich mit erhobenen Augenbrauen an.

      „Danke für die Eselsbrücke, das kann ich mir merken.“

      „Okay, ich gehe dann mal wieder rein und arbeite weiter.“

      Ich schloss die Tür der Bibliothek hinter mir und lehnte ich mich erleichtert dagegen. Als ich aufsah und in Julians undurchsichtiges Gesicht blickte, zuckte ich zusammen. Ich war so froh, Tom loszuwerden, bevor er mir meinen aufgewühlten Zustand anmerkte, dass ich vergessen hatte, dass ich nicht allein war.

      „Ein Date mit dem Boss. Sie verstoßen wohl gern gegen die Regeln, Frau Larsen.“

      „Das ist kein Date“, beteuerte ich, aber wem wollte ich etwas vormachen? „Halt die Klappe, Julian und hau in die Tasten“, sagte ich und schnappte mir das nächste Buch.

      Das Klappern der Tastatur mischte sich mit seinem leisen Lachen, aber ich sah nicht rüber. Ich würde ganz bestimmt nicht mein verkorkstes Liebesleben mit einem Häftling diskutieren!

      Kapitel 6

       Julian

      In meiner Zelle ging ich bis zum Fenster und starrte hinaus, wie ich es immer tat, wenn ich eingeschlossen wurde. Zu groß war die Gefahr, dass mir jemand die Panik ansah.

      „Bis morgen, Julian. Vielen Dank für Ihre Hilfe heute.“ Ihre Stimme klang unsicher. Gern hätte ich nochmal ihre Hand genommen und ihr gesagt, dass alles in Ordnung war, sie sich keine Sorgen machen muss, aber dazu musste ich mich umdrehen und das ging momentan nicht.

      „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Frau Larsen.“ Ich konnte sie hier drin nicht Nina nennen. Hier, an dem Ort, an dem ich meine Schuld bezahlte, war dafür kein Platz.

      Sie bemühte sich, die Tür leise zu schließen, aber heute machte das keinen Unterschied. Sobald sich der Schlüssel im Schloss drehte, keuchte ich. Schlimmer als seit Monaten überfiel mich die Panik. Mein von Sauerstoff überschwemmtes Gehirn machte mich so schwindelig, dass mir übel wurde. Ich brach auf dem Zellenboden zusammen und Todesangst mischte sich mit dem beruhigenden Gefühl, dass ich jetzt das bekam, was ich verdiente. Ich schaffte es nur knapp bis zur Toilette und übergab mich, bis Magen und Speiseröhre brannten. Dann schleppte ich mich aufs Bett und fiel in die Abgründe meiner Albträume.

      Froh, dass niemand meinen kleinen Zusammenbruch bemerkt hatte, kam ich wieder zu mir. Ich setzte mich schwerfällig auf den Stuhl. Die Hände zitterten vor Anspannung, die innere Unruhe war kaum auszuhalten. Bestrafung durch Liegestütz fiel heute aus, ich bekäme keine fünf zusammen. Aber ich wusste, wie ich für den Nachmittag mit Nina bezahlen konnte.

      Mühsam rappelte ich mich auf und schleppte mich zum Schrank. Aus dem obersten Fach nahm ich einen Karton mit Briefen und Fotos und stellte ihn auf den Tisch. Mit zitternden Händen öffnete ich den ersten Umschlag und starrte auf das Foto von Jessica. Es war ein Bild aus dem Skiurlaub. Sie lachte glücklich in die Kamera und ich konnte mich genau an den Tag erinnern, an dem ich es aufgenommen hatte. Der altbekannte Knoten aus Schuldgefühlen und Trauer ballte sich in meinem Magen zusammen und ich öffnete das zusammengefaltete Blatt, das mit einer kleinen, schwer lesbaren Handschrift bedeckt war. Ich hatte drei Stunden mit Nina gearbeitet, also würde ich jetzt drei Stunden die Briefe lesen.

      *

      Es war kurz vor zehn, als jemand an die Zellentür klopfte.

      „Einen Moment bitte“, rief ich und ärgerte mich über meine zitternde Stimme. Schnell wischte ich die Tränen fort und stellte mich so vor den Tisch, dass man die ausgebreiteten Briefe, die ich wieder und wieder gelesen hatte, von der Tür aus nicht sah.

      „Kommen Sie rein“, rief ich, als die Tür nicht ohne Aufforderung geöffnet wurde. Es musste Nina sein, kein anderer Wärter wartete auf eine Einladung, um meine Zelle zu betreten.

      „Hey Julian, ich wollte nur sehen, ob