Lebendkontrolle. Heike Bicher-Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Bicher-Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742737861
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der mich nachdenklich betrachtete. Verunsichert schaute ich an mir hinunter. Hatte ich meine Uniformbluse falsch zugeknöpft?

      „Was ist?“, fragte ich, als ich nichts Ungewöhnliches entdeckte.

      „Sie sind anders, als die anderen Schließer“, sagte er schlicht.

      „Hey, Schließer ist aber keine nette Bezeichnung. Ich nenne Sie ja auch nicht Knacki.“ Er zuckte bei meiner Bemerkung fast unmerklich zusammen und mir taten meine Worte sofort leid. Aber ich entschuldigte mich nicht dafür, das hätte lächerlich gewirkt.

      „Warum meinen Sie, dass ich anders bin?“, fragte ich stattdessen.

      „Sie sind die hartnäckigste Vollzugsbeamtin, die ich in den letzten zwei Jahren kennenlernen durfte“, antwortete er.

      „Und ist das gut oder schlecht?“

      „Weiß ich noch nicht.“ Er nahm ein Buch vom Stapel.

      „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass sie ein wirklich anstrengender Gesprächspartner sind?“, fragte ich.

      „In letzter Zeit nicht.“

      „Ja, natürlich nicht. Sie sprechen ja mit keinem.“

      „Ich spreche doch mit Ihnen.“

      „Ja, das tun Sie“, sagte ich und lächelte ihn an, was ihn zu verunsichern schien, denn er starrte angestrengt auf das nächste Buch, ohne zu bemerken, dass es falsch herum lag.

      „Warum reden Sie nicht mit den anderen Häftlingen?“, ich musste die Gelegenheit nutzen, gesprächig und verunsichert hatte ich Kanter noch nicht erlebt.

      „Ich bin lieber für mich“, antwortete er, ohne aufzusehen. Als ich das Buch herum drehte, auf das er noch immer starrte, lächelte er bitter und sah dann mit seinen warmen braunen Augen direkt in meine.

      „Ich habe diese Strafe verdient, wissen Sie? Und vier Jahre sind noch viel zu wenig.“

      „Und deshalb sind Sie der Ansicht, Sie müssten sich zusätzlich mit Einsamkeit bestrafen, wenn Sie Ihr über Sie selbst verhängtes Todesurteil schon nicht vollstrecken konnten?“

      Er hielt meinen Blick eine ganze Minute, dann tippte er weiter.

      „Sie sollten dem Richter glauben, dass die Strafe, die er Ihnen gegeben hat, ausreichend ist. Sie müssen sich nicht zusätzlich selbst bestrafen.“

      Er straffte seine Schultern und setzte sich kerzengerade hin, bevor er mich wieder ansah. Sein vorher so warmer Blick hatte jede Sanftheit verloren.

      „Frau Larsen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihre sozialpädagogischen Zwangshandlungen und Ihr Gutmenschentum an jemand Anderem ausließen und jetzt bitte ich Sie, mich zurück in meine Zelle zu bringen. Ich fühle mich nicht wohl.“ Damit stand er auf und wartete neben der Tür.

      Ich hatte es ja sowas von verbockt! Unprofessionell und dämlich. Nur weil ich einsam war und trotz allem den verdammten Marc vermisste, konnte ich doch nicht einfach fremden Menschen Gespräche aufdrängen! Vor allem nicht Häftlingen, die sich gegen meine Aufdringlichkeiten nicht wehren konnten.

      Ich brachte Kanter zurück in seine Zelle.

      „Wenn Sie sich morgen besser fühlen und weiter in der Bibliothek arbeiten möchten, sagen Sie es einem der Vollzugsbeamten von der Frühschicht, ich werde erst zur Mittagsschicht hier sein“, erklärte ich, als ich die Tür zu Zelle sieben aufschloss. Er ging hinein, blieb vor dem kleinen vergitterten Fenster stehen und schaute hinaus. Das war wohl die ganze Antwort, die ich von ihm erhalten würde, also schloss ich ihn in der Zelle ein und trottete zurück zum Aquarium.

      Bevor ich an diesem Tag nach Hause fuhr, um mich mit einem Glas Wein und meiner liebsten Heul-Musik in die Badewanne zurückzuziehen, ging ich noch beim Hausmeister vorbei, um ihm einen Auftrag zu geben.

      Kapitel 4

       Julian

      Warum ließ mich diese Frau nicht in Ruhe? Sonst scherte sich doch auch niemand darum, ob ich sprach oder nicht. Aber nochmal würde ich ihr nicht in die Falle gehen. Auch wenn die Aussicht, aus dieser Zelle herauszukommen, noch so verlockend war, würde ich mich ihrem Verhör nicht wieder stellen. Ich presste die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzte und sah stur weiter aus dem Fenster.

      Ich zuckte zusammen, wie immer wenn ich das Geräusch des Schlüssels im Schloss der Zellentür hörte und drehte mich widerwillig um. Wenn das die Larsen war, würde ich sie mit so deutlichen Worten rausschmeißen, dass sie sich nie wieder in meine Zelle traute. So unsicher und verletzlich, wie sie wirkte, würde das ein Kinderspiel werden. Aber als die Tür geöffnet wurde, war es nicht die Schließerin, sondern ein anderer Wärter und der Hausmeister.

      „Ja, das Schloss klemmt wirklich etwas. Ist aber sicher nichts, was sich nicht mit ein paar Tropfen Öl beheben lässt“, murmelte der Hausmeister und stellte seinen Werkzeugkasten ab. Er baute das Schloss der Zellentür aus, ölte es sorgfältig und baute es wieder ein. Dann ölte er auch noch die Türangeln, verabschiedete sich und der Wärter schloss ab.

      Sprachlos hatte ich dem Schauspiel zugesehen und fiel jetzt rückwärts auf mein Bett. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass der Auftrag, das Schloss zu ölen, von Frau Larsen kam. Sie hatte mir angesehen, wie sehr ich darunter litt eingesperrt zu sein und wie verhasst mir das damit verbundene Geräusch des Schlosses war. Sie hatte sich tatsächlich Gedanken gemacht, wie sie mir die Situation erleichtern konnte. Das hier war verdammt nochmal das Netteste, was jemand in den letzten zwei Jahren für mich getan hatte!

      Ich legte den Arm über meine Augen und stöhnte. Damit konnte ich sie nicht mehr einfach abblitzen lassen. Unmöglich konnte ich sie nach dieser Aktion so kränken, dass sie mich in Ruhe ließ, so ein Schwein war ich dann doch nicht. Aber das bedeutete, dass ich mich weiter mit ihr auseinandersetzen musste und das würde alles andere als einfach werden. Auch wenn sie mit ihren kaum 1,65 m in ihrer Uniform noch so harmlos aussah, sie war schlau und hartnäckig. Zielsicher fand sie meine wunden Punkte und bohrte darin herum. Aber das Schlimmste an ihr war, dass sie mich an Jessica erinnerte. Jessi wäre zwar niemals ungeschminkt wie Frau Larsen in der Öffentlichkeit herumgelaufen und hätte ihre langen dunkelblonden Haare niemals zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber sie hatten neben der gleichen Haarfarbe und Haarlänge auch etwa die gleiche Größe und Figur.

      An den richtigen Stellen füllig, wie ich fand, war Jessi selbst nie mit ihrer Figur zufrieden gewesen. Als ich Frau Larsen am Freitag zum ersten Mal sah, wie sie unschlüssig in der Zellentür stand, war mir beinah das Herz vor Schreck stehengeblieben und später hatte mich ein so heftiger Albtraum im Griff, dass ich mich nicht mehr traute, einzuschlafen. Selten war ich für Kaffee und Gesellschaft so dankbar gewesen wie in dieser Nacht.

      Erst nach einer ganzen Weile fiel mir auf, dass ich beim Abschließen der Zellentür keine Panikattacke bekommen hatte. Normalerweise löste das Geräusch des schließenden Schlosses regelmäßig Atemnot bei mir aus, die ich dann minutenlang niederringen musste, bis ich nicht mehr glaubte, zu ersticken. Das klaustrophobische Gefühl blieb allerdings mein ständiger Begleiter.

      Vielleicht lag es an meiner Verwirrung über das Verhalten der Schließerin oder einfach daran, dass das Geräusch des Schlosses jetzt nicht mehr nur bedeutete, dass ich eingeschlossen wurde, sondern auch, dass jemand an mich gedacht hatte.

      Die Frau war gefährlich. Nach nur einer Nacht und einem Tag mit ihr ging es mir besser, unterhielt ich mich wieder, genoss ihre Gesellschaft und hatte sogar mit ihr gelacht! Das war falsch, so falsch.

      Meine Gedanken kreisten und die Spannung in mir stieg von Minute zu Minute, bis ich aufsprang und in der Zelle auf und ab ging, aber dadurch wurde die Anspannung nur größer. Die angenehmen Gefühle standen mir nicht zu, ich musste dem unbedingt etwas entgegensetzen, aber es gab hier nichts, was ich tun konnte, um die Spannung abzubauen. Hilflos sah ich mich um. In Ermangelung einer Alternative begann ich, neben dem Bett Liegestütz zu machen und würde