Lebendkontrolle. Heike Bicher-Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Bicher-Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742737861
Скачать книгу
fair, also löste ich mich sanft aus der Umarmung. Um seinen Mundwinkel zuckte ein bitteres Lächeln.

      „Stell den Antrag auf Halbstrafe und kämpf dich hier raus. Dann komm zu mir“, sagte ich und ging zurück zu dem Bücherkarton, aus dem ich heute noch keine drei Bücher kontrolliert hatte. Er setzte sich an den Computer und nach ein paar Minuten hörte ich das Klappern der Tastatur.

       Nina

      Am nächsten Tag hatte Julian einen Termin beim Anstaltspsychologen, daher fiel die Arbeit in der Bibliothek aus und ich war froh über diese Pause. Unser Frage und Antwort-Spiel zehrte nicht nur an Julians Nerven. Ich sah ihn nur kurz, als er mit den anderen Gefangenen zum täglichen Hofgang hinunterging. Er sah mir in die Augen, als er an mir vorbeiging, sagte aber nichts. Wie immer hielt er sich gerade und verzog keine Miene, aber ich kannte ihn mittlerweile besser und konnte die Anzeichen, wie die dunklen Schatten unter seinen Augen, deuten. Es ging ihm nicht gut.

       *

      Als ich am Freitag zur Frühschicht kam, war Tom bereits im Wachraum.

      „Nina, du musst mir heute beim Verwaltungskram helfen, die Bibliothek kann warten“, sagte er, sobald ich zur Tür hereinkam. Misstrauisch sah ich ihn an. Hatte er den Verdacht, dass mein Verhältnis zu Julian nicht so war, wie es sein sollte? Aber als ich die E-Mail der Anstaltsleitung mit den Fragen zum Budget des kommenden Jahres las, beruhigte ich mich wieder. Tom hatte nur eine lästige Aufgabe erhalten und suchte jemand, der ihm dabei half.

      „Ich sage Kanter, dass wir erst Montag weitermachen, vielleicht geht er ja in den Gemeinschaftsraum.“

      „Na dann, viel Erfolg“, sagte Christian spöttisch. Ich lief den Gang hinunter und klopfte an Zelle sieben. Als ich sein „Herein“ hörte, schloss ich auf. Julian stand lächelnd vor mir, aber das Lächeln wirkte auf mich nicht überzeugend. Ich schob ihn rückwärts in den Raum und lehnte die Tür hinter mir an.

      „Hey, Julian, ich muss mit dir reden.“

      Mit finsterem Blick wies er auf den Stuhl und setzte sich aufs Bett.

      „Hat Tellmann verboten, dass wir in der Bibliothek arbeiten?“, fragte er. Die Verärgerung war seiner Stimme deutlich anzuhören.

      „Nein, warum sollte er?“

      „Weil er eifersüchtig ist.“

      „Wie kommst du darauf?“

      „Er hat mich gestern in der Spätschicht persönlich gefilzt.“

      Ich legte meine Hand auf seine.

      „Das ist sein Job. Nicht nur ich mache mir Sorgen um dich.“

      „Wenn du das sagst.“

      „Ich muss heute Papierkram erledigen, aber am Montag machen wir weiter, versprochen.“

      „Ja natürlich. Du musst mich nicht wie ein Kleinkind behandeln.“

      „Das weiß ich. Aber ich würde mich trotzdem freuen, wenn du heute in den Gemeinschaftsraum gehst.“

      „Ich bleibe hier, danke.“

      „Bitte. Du hast gestern schon nicht gut ausgesehen, verkriech dich nicht in deiner Zelle.“

      „Mir geht es gut“, beteuerte er, aber ich glaubte ihm kein Wort.

      „Hast du schon deinen Anwalt angerufen?“

      „Nein.“

      „Gib mir seinen Namen, dann mache ich einen Termin für dich aus.“

      „Das geht dich nichts an. Versteh das doch!“

      „Willst du mich bestrafen, weil ich dich vorgestern nicht geküsst habe?“, fragte ich.

      Er atmete tief durch und schloss die Augen.

      „Ich hätte dich gern geküsst, aber es war richtig, mich aufzuhalten. Ich entschuldige mich für mein Verhalten und bin dir natürlich nicht böse.“

      „Geh zu deinem Papierkram, sonst muss ich bei der nächsten Begegnung mit Tellmann wieder die Hosen runterlassen.“

      Ich stand auf, als er zu mir aufsah, strich ich durch seine dunklen Haare.

      „Du könntest einen Haarschnitt vertragen. Darf ich dir wenigstens einen Termin beim Friseur machen? Der Anstaltsfriseur ist heute da.“

      Er lächelte und nickte.

      „Ich verabschiede mich, bevor ich gehe.“ Als ich mich an der Tür nochmal zu ihm umdrehte, sah er mir regungslos nach und ich wünschte so sehr, dass er sich helfen ließe.

      Kapitel 8

       Nina

      Samstag, pünktlich um 19.30 Uhr, schellte Tom an meiner Tür. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht das ganze Wochenende an Julian zu denken und mir ausnahmsweise viel Mühe mit meinem Äußeren gegeben. Ich trug ein kurzes rotes Sommerkleid und hatte auf den üblichen Zopf verzichtet. Ich war nicht der Typ für Schuhe mit hohen Absätzen, also trug ich rote Turnschuhe, aber zu meiner Ehrenrettung kann ich sagen, ich hatte mich geschminkt.

      Als ich die beiden Etagen hinunterrannte und die Haustür aufriss, sah mich Tom mit erhobenen Augenbrauen an.

      „Wenn ich gewusst hätte, was unter der blauen Uniform steckt, hätte ich dich schon letzte Woche eingeladen.“ Er grinste von einem Ohr zum anderen.

      Ich verdrehte die Augen.

      „Hallo Tom, wir sollten uns beeilen, sonst bekommen wir keine Karten mehr.“

      Er zog zwei Kino-Tickets aus der Tasche seines schwarzen Hemdes.

      „Wir haben Zeit und können in aller Ruhe rüber spazieren.“

      „Du bist ja der perfekte Gentleman, wenn ich das gewusst hätte, wäre ich schon letzte Woche mit dir ausgegangen.“

      Tom machte es mir leicht, vom Berufsalltag zur Freizeit umzuschalten. Er erwähnte die Arbeit und die JVA mit keinem Wort. Stattdessen erzählte er, wie er hier aufgewachsen war, in welchen Kneipen er sich herumgetrieben hatte und es manchmal immer noch tat und stellt viele Fragen nach meiner Kindheit. Ernste Themen sparte er dabei aus und als wir nebeneinander mit Popcorn und Cola im Kino saßen, fühlte ich mich zum ersten Mal seit Wochen entspannt und sorglos.

      Obwohl der Film nicht besonders gut war, hatte ich Spaß und Tom sah so aus, als ob es ihm ähnlich ginge. Nach der Hälfte des Films nahm er meine Hand und strich mit dem Daumen über den Handrücken. Ich zuckte zusammen und dachte sofort daran, wie Julian das Gleiche getan hatte. Unwillig gestand ich mir ein, dass Händchenhalten mit Tom bei weitem nicht die Wirkung auf mich hatte, wie Händchenhalten mit Julian. Da ich keine große Sache draus machen wollte, ließ ich ihm seinen Willen. Ich würde nach dem Film mit Tom reden.

      „Gehen wir noch was trinken oder hast du Hunger?“, fragte er, als die Vorstellung zu Ende war.

      „Ein Kaffee wäre schön“, erwiderte ich. Er griff wieder nach meiner Hand.

      „Was hältst du von einem Eis. Die Eisdielen haben bei dem schönen Wetter bestimmt noch geöffnet.“

      „Gern. Aber Tom, hältst du das für eine gute Idee?“ Ich hob unsere ineinander verschränkten Hände.

      „Für eine sehr gute Idee sogar!“ Sein Lächeln war entwaffnend und ich bemühte mich, es zu erwidern.

      „Ich dachte, wir gehen als Kollegen ins Kino. Das sollte kein Date sein.“

      „Ich hab dir keine Blumen mitgebracht, also ist es kein Date und ich hab kein Problem damit, die Hand meiner Kollegin zu halten. Was ist schon dabei.“

      Als wir in der Eisdiele saßen und bestellt hatten, nahm er erneut meine Hand, aber diesmal entzog ich sie ihm und lehnte mich zurück.

      „Es