Deswegen machen Taucher beim Auftauchen die Zwischenstopps auf einer geringen Tiefe?
Karen Polocek hatte nicht nur aufmerksam zugehört, sondern offensichtlich auch schon mal etwas von der Materie gehört.
Richtig! Diese sogenannten Dekompressionsstopps in geringer Tiefe ermöglichen es, den Stickstoff wieder aus dem Blut auszuscheiden, ohne dass es zu dem Sektflascheneffekt kommt. Dekompressionstauchgänge sind zwar mittlerweile Gang und Gäbe, aber sie sind natürlich weitaus risikoreicher als Tauchgänge im sogenannten Nullzeit-Bereich.
Was genau bedeutet Nullzeit-Bereich?, wollte Sarah wissen.
Die Nullzeit ist die Zeit, die sich ein Mensch auf einer bestimmten Tiefe maximal aufhalten darf, um ohne Dekompression, also zu jedem Zeitpunkt, sofort wieder auftauchen zu können. Früher musste man das Tauchprofil genau planen, heute hat man in der Regel einen Tauchcomputer am Handgelenk, der einem immer genau sagt, wie lange man noch in der momentanen Tiefe verbleiben kann, ohne zu dekomprimieren. Ein solches Gerät zeigt auch Tiefe und Dauer eines Dekostopps an, wenn denn einer vonnöten werden sollte.
Sarah, die gern Menschen zuhörte, wenn sie begeistert von einem Thema sprachen, über das sie sich auskannten, ließ Thomas nicht aus den Augen. Er war in seinem Element.
Pfefferle lehnte sich voller Eifer nach vorne.
Aha, und jetzt kommt wohl der erhöhte Sauerstoffanteil beim Nitrox-Atemgemisch ins Spiel! Ich könnte wetten, dass man damit die Nullzeiten erhöhen kann. Richtig?
Auch er hatte genau aufgepasst und die richtigen Schlüsse gezogen. Thomas nickte anerkennend.
Sehr gut! Das liegt daran, dass die Wirkung der Gase auf den menschlichen Körper nicht vom Gesamtdruck, sondern vom sogenannten Partialdruck abhängt. Dieser wiederum steht in direktem linearen Zusammenhang mit dem Anteil des Gases am Gesamtgemisch.
Wie habe ich das zu verstehen? Gröber hakte nach.
Am besten mal ein Beispiel. Wir haben hier an der Oberfläche so in etwa 1 Bar Luftdruck. Da der Stickstoff 78?% der Atemluft ausmacht, haben wir für den Stickstoff an der Oberfläche einen Partialdruck von ca. 0,78 Bar. Nun ist es so, dass je 10 Meter Wassertiefe der Gesamtdruck um 1 Bar zunimmt. Das heißt, in einer Tiefe von 20 Metern haben wir einen Gesamtdruck von ca. 3 Bar.
Er schrieb die Zahlen an die Tafel. Nun war es Sarah, die kombinierte:
Wenn ich das richtig verstehe, bedeutet das, dass in 20 Meter Wassertiefe ein Stickstoffpartialdruck von drei mal 0,78, macht ca. 2,4 Bar, haben.
2,34 Bar, um genau zu sein.
Thomas lächelte sie an und in seinen Augen lag die Aufforderung, den Gedanken weiterzuspinnen.
Das würde bedeuten, wenn man, wie unser Toter es getan hat, den Stickstoffanteil des Atemgases durch die Zugabe von Sauerstoff auf 60?% senkt, hätte man in 20 Meter Tiefe nur noch einen Stickstoffpartialdruck von drei mal 0,6, macht nur noch 1,8 Bar. Damit löst sich weniger Stickstoff im Blut und wir haben die gewünschte Verlängerung der Nullzeit. Sprich, wir können länger unten bleiben.
Summa cum Laude, lobte Thomas und schrieb die Berechnung für alle verständlich an.
Genauso verhält es sich.
Und wieso taucht man dann nicht mit 100?% Sauerstoff? Wäre doch praktisch: Kein Tiefenrausch, keine Dekompression, und mit genügend großem Vorrat könnte man fast unbegrenzt unter Wasser bleiben.
Sichtlich von dem Thema interessiert war es Karen Polocek, die noch weitere Informationen haben wollte. Thomas setzte schon zur Erklärung an, Gröber winkte jedoch ab.
Bringt uns das in Bezug auf den Fall weitere Erkenntnisse?, fragte er.
Thomas nickte.
Ja, vielleicht nichts Bahnbrechendes, aber es kann uns zumindest ein weiteres Detail liefern.
Also gut, dann legen Sie los, knurrte Gröber, und im Anschluss erläutern Sie uns endlich, was an all dem nun so wichtig ist.
Thomas nahm sich einen anderen Stift und wandte sich wieder den Kollegen zu.
Gut! Die Frage von Karen ist sehr berechtigt, klingen die Fakten bezüglich der Dekompression und des Tiefenrausches doch recht verlockend! Die Sache hat nur einen Haken: Nicht nur der Stickstoff hat unter Druck eine andere Wirkung auf den Organismus, sondern auch der Sauerstoff. Man spricht hier vom Paul-Bert-Effekt: Das für uns lebensnotwendige Gas wird nämlich ab einem Partialdruck von etwa 1,6 Bar schwer toxisch. Und zwar ziemlich plötzlich und ohne Anzeichen. Eine solche Sauerstoffvergiftung führt in kürzester Zeit zu schweren Krampfanfällen bei komplettem Verlust der Koordination. Wir sprechen hier von einem Zeitraum von wenigen Sekunden! Über die Dauer von Minuten kann das Überschreiten des Partialdrucks von 1,6 Bar unter Wasser natürlich tödliche Folgen haben! Um eine gewisse Sicherheitsreserve zu haben und weil auch hier, wie beim Tiefenrausch, die individuelle körperliche Konstitution und besonderen Umstände der jeweiligen Situation eine Rolle spielen können, wird in der Tauchtiefenberechnung in der Regel sogar von einem Wert von 1,5 Bar ausgegangen, beim Sporttauchen sogar zum Teil von 1,4.
Sarah dachte angestrengt nach.
Das bedeutet für die Praxis, dass ich mit 100?% Sauerstoff nur, ... gehen wir mal von einem höchstzulässigen Wert von 1,6 Bar aus ... Moment... 1 Bar haben wir alleine schon für den Luftdruck... bleiben 0,6 Bar für den maximalen Wasserdruck... etwa 6 Meter tief tauchen kann, ohne Gefahr zu laufen, an der Sauerstoffvergiftung zu sterben oder wegen unkontrollierter Krämpfe mein Mundstück zu verlieren und jämmerlich zu ertrinken?
Besser hätte ich es nicht ausdrücken können, meinte Thomas.
Wieder notierte er auf dem Board.
Allgemein ausgedrückt: Es gibt einen Trade-off zwischen Vermeidung der Dekompression und Unterdrückung des Tiefenrausches auf der einen, und der maximal erreichbaren Tauchtiefe auf der anderen Seite. Für Pressluft ergibt sich die maximale Tauchtiefe mit 1,6 geteilt durch 0,21, das ergibt einen zulässigen Gesamtdruck von 7,6 Bar. Minus das eine Bar Luftdruck ergibt einen maximal zulässigen Wasserdruck von 6,6 Bar, was einer Tiefe von 66 Metern entspricht.
Oder für unseren Fall, wenn wir ein 40?% Nitroxgemisch annehmen: 1,6 geteilt durch 0,4 ergibt 4,0 Bar Gesamtdruck minus 1 Bar Luftdruck, bleiben 3 Bar Wasserdruck. Das entspricht 30 Meter Wassertiefe. Mehr war für unseren Toten folglich nicht drin.
Thomas legte den Boardmarker auf die Seite und ging wieder zurück an seinen Platz.
Ich finde nicht, dass uns die Information, dass unser John Doe maximal 30 Meter tief tauchen konnte, sonderlich weiter bringt. Warum also Ihre Zuversicht?
Gröber bediente sich des amerikanischen Ausdruckes für eine nicht identifizierte Person wahrscheinlich, um seine Untergebenen zu beeindrucken. Das Ganze klang bei seiner stark schwäbisch gefärbten Aussprache allerdings irgendwie aufgesetzt.
Thomas konterte:
Das war nur die kleine Information am Rande, von der ich sprach. Sie haben Recht, denn viel wichtiger ist für uns die Information, dass er überhaupt mit Nitrox getaucht ist. Denn: Prinzipiell kann jeder, der eine gewisse Ahnung hat, seine Flaschen mit einem dafür geeigneten Kompressor selber befüllen. Aber da er ein Nitroxgemisch benutzt hat, können wir fast zu 100?% davon ausgehen, dass er sich seine Luft bei einem Tauchshop geholt hat. Das führt uns zu zurück auf unseren gestern verworfenen Vorschlag mit den Tauchcentern.
Ok, verstanden.
Gröber schien Thomas‘ Begeisterung nicht zu teilen.
Noch was?
Ich bin mir relativ sicher, dass die Zahl der Tauchcenter, die Nitrox abfüllen, nur ein Bruchteil dieser Endlosliste ausmachen. Das grenzt unsere Suche ganz erheblich ein! Ich werde mich gleich im Anschluss daran machen herauszufinden,