„Fünfundzwanzig! Ist alles roger, oder soll ich hier warten?“
„Nein danke!“, durchbrach Jessicas Stimme vom Fond her die quälende Schweigesekunde.
„Na gut!“, murmelte der Fahrer, kassierte und wartete, bis seine seltsamen Fahrgäste ausgestiegen waren. Dann fuhr er mit durchdrehenden Reifen davon, als wäre der Gehörnte persönlich hinter ihm her und wollte ihn rechts überholen.
Jeannies altes Gehöft lag still und finster vor den vier Freunden. Die laue Luft verströmte das behagliche Flair einer Frühsommernacht, aber die Herzen der Jugendlichen spielten Technoparty. Jessica machte einen Schritt auf die Haustüre zu. Robert packte sie am Ärmel und hielt sie fest.
„Spinnst du?“, keuchte er. „Wir haben keine Ahnung, was da überhaupt abgeht! Du kannst da nicht so einfach rein!“
Jessica hasste es, belehrt zu werden. Obwohl sie wusste, dass ihr Freund recht hatte, zischte sie ihm ein vernichtendes „Lass mich!“ entgegen.
„Stimmt schon, was Robby sagt“, flüsterte Jasmin in die aufgeladene Atmosphäre hinein. Dabei verspürte sie, wie tiefe innere Ruhe sie ergriff. Aller Beklemmung zum Trotz wechselte die Panik in den Pausenmodus und machte Platz für klare Gedanken. Drei Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf Jassy. Sie war soeben stillschweigend, in geheimer Wahl zur Anführerin ernannt worden.
„Wir wissen nicht, was uns in dem Haus erwartet …“, begann sie, und Nick ergänzte: „… oder wer!“
„Oh Mann“, fiel Robert jetzt mit ein, „wir sind einfach planlos durchgestartet …“
„Für Kriegsrat war ja wohl keine Zeit mehr, oder?“, herrschte Jessica ihn, so leise sie konnte, an. „Wir sind unbewaffnet! Und was wir da auf der Mailbox gehört haben, klang verdammt gewalttätig!“
„Seid bitte still! Wir müssen erst mal feststellen, ob es was Verdächtiges gibt.“ Kaum hatte Jassy das ausgesprochen, verstummten die anderen auch schon. Jasmin fühlte sich nahezu wie in Trance: Die Stimmen und Bilder waren aus ihr verschwunden, es gab nur noch das Hier und Jetzt – die Dunkelheit, die Schatten ihrer Freunde, die Geräusche: Wind umstrich eine alte, verloschene Laterne. Die Scharniere etlicher Tore und Türen quietschten leise vor sich hin. Vom nahen Wald klangen die Laute der Nachtvögel herüber. Jasmin schloss die Augen und lauschte.
„Nichts!“, sagte sie schließlich. „Wir gehen rein, aber leise, klar?“
Niemand antwortete. Nick war als Erster an der Haustüre. Wie in Zeitlupe legte er seine Hand auf die schmiedeeiserne Klinke. Das Pochen in den Ohren erschien ihm unerträglich laut. Er spürte, wie seine Finger zitterten, und glaubte fast, Schweißtropfen auf die Treppe platschen zu hören. Sachte drückte er die Klinke herunter.
Ein ohrenbetäubender Knall donnerte los. Augenblicklich warf sich Nick zu Boden. Die anderen erstarrten. Alle erwarteten eine Stichflamme, doch die scheinbare Detonation verhallte ohne Rauch und Feuer.
„Verdammt, was war das denn?“, fragte Robert.
„Die Tür!“, antwortete Jessica. In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Hysterie mit. „Sie ist komplett nach draußen gefallen.“
„Wieso haben wir eigentlich keine Taschenlampen dabei?“, fragte Robert und versuchte mit zusammengekniffenen Augen etwas im Mondlicht zu erkennen.
„Coole Frage, Robby“, schnaubte Nick. „Hättest du die nicht vor einer Dreiviertelstunde stellen können?“ Er rappelte sich umständlich wieder auf.
Alle starrten schweigend zu der dunklen Türöffnung hin.
„Und wenn wir doch die Polizei rufen?“, wagte Jessica die Stille zu durchbrechen.
„Nein!“, reagierte Nick ungewohnt heftig. Das Bild vor seinem inneren Auge wollte und wollte nicht verblassen, ja, nicht einmal vergilben: Jasmins Handy, auf dessen Display Jeannies Nummer blinkte. Das Mobiltelefon klingelte und klingelte und klingelte …
„Nick hat recht“, stimmte Jasmin zu, „Jeannie hat das bestimmt nicht nur so gesagt! Aber egal – wir gehen jetzt da rein!“
Jassy betrat als Erste die Diele. Sie blinzelte und versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.
„Mannomann, draußen hatten wir wenigstens Mondlicht!“, stellte Robert fest.
„Kannst du nicht schnell das Dach abdecken?“, versuchte Jessica die Freunde wenigstens ein bisschen aufzumuntern.
„Hier muss doch irgendwo ein Lichtschalter sein!“, sagte Jasmin, mehr zu sich selbst. Sie tastete sich an der Wand entlang, auf das Treppenhaus zu. Die hölzernen Stiegen führten zu Jeannies Wohnzimmer im ersten Stock hinauf. Vorsichtig arbeiteten sich die Jugendlichen Schritt um Schritt vorwärts.
Plötzlich stolperte Jasmin. Ihr Aufschrei zerfetzte die atemlose Stille. Rumpelnd polterte es unter ihr. Sie ruderte mit den Armen und versuchte das Gleichgewicht zu halten, fiel aber schließlich in das Schwarz der Nachtschatten hinein. In diesen Sekundenbruchteilen durchlebte sie noch einmal die schrecklichsten Augenblicke ihres Lebens: ihre Entführung und die Gefangenschaft in einem muffigen, modrigen Keller. Sie glaubte, wieder in jenes Loch hinabgestoßen zu werden, erwartete einen nicht enden wollenden Sturz in die Schrecknisse ihrer Erinnerung. Jasmin prallte mit den Knien hart auf Holz, ihre Hände schürften, Halt suchend, über Staub und Spreißel. Schmerz und Wut stoppten die scheinbare Endlosigkeit des Falls. Ein weiteres Krachen dröhnte durch den dunklen Flur, als Jasmins Ellenbogen auf eine der Stufen knallten. Keuchend zog sie sich am Geländer hoch und setzte sich auf die Treppen. Sie hatte ihre Orientierung wiedergefunden und blinzelte in Richtung Tür. Zwinkernd bemühte sie sich, die Schatten, die sich vom schwach hereindringenden Mondlicht abhoben, ihren Freunden zuzuordnen. Ohne lange nachzudenken leckte Jasmin an der aufgeschürften Handfläche und schüttelte sich, als der Geschmack von Schmutz und Blut bitter auf der Zunge prickelte. Die offenen Wunden brannten und pulsierten schmerzhaft.
„Ich bin auf der Treppe! Kommt her, aber passt auf! Da liegt ein Stuhl oder so im Weg. Kurz vor der Stiege muss irgendwo ein Lichtschalter an der Wand sein.“
Sie sah, wie einer der Schatten in den Flur hineintrat. Gleichzeitig spukte ihr eine schreckliche Vision im Kopf herum: Was, wenn das nicht mehr ihre Freunde waren, sondern …
Der Schatten war nun nahe bei ihr.
„Bist du das, Nick?“
Keine Reaktion.
„Nick?“
Nichts.
Die Gestalt hob die Hand. Ein „klick“ hallte wie höhnisches Gekicher durch den Raum. Das nun aufflackernde Licht drohte den Freunden die Augen in Stücke zu reißen. Die vier blickten sich verdattert an. Nach einer sprachlosen Minute wunderten sie sich, dass das funzelige Schimmern einer Glühbirne, die ihr Testament bestimmt schon bald machen würde, sie derart blenden konnte. Kaum war der Schmerz aus den Augen gewichen, bohrte er sich in ihre Seelen. Fassungslos sahen sie sich um: Die Wände waren über und über mit Parolen der schlimmsten Sorte beschmiert: „Ausländerpack“ – „Kanaken raus“ – „Asylanten sind biologisch abbaubar“. Fassungslos ließen Jassy, Jessy, Robert und Nick ihre Blicke in diesem Museum der Intoleranz herumwandern. Die Kraft des hier manifestierten Hasses lähmte alle Glieder. Keiner gab einen Laut von sich. Roberts Blick fiel auf ein Büschel Stroh in der Ecke, dann bemerkte er den Geruch. Wortlos deutete er auf seine Entdeckung. Nick folgte dem Fingerzeig und lief zu dem kleinen Bündel hinüber. Daneben fand er einen Benzinkanister, um den herum einige abgebrannte Streichhölzer im Staub lagen. Eine Gänsehaut ließ den Jungen erzittern, als