Schnee von gestern ...und vorgestern. Günther Klößinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günther Klößinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737520829
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Die harmonischen Rückblenden in die unbeschwerten Momente ihrer Kindheit und Jugend drohten zu verblassen – die Tatsache, dass noch vor Kurzem ihr Leben ein einziger Albtraum gewesen war, begann stattdessen, ihre Gedanken zu verdunkeln. Sie wollte, nein, durfte den Erinnerungen an die Entführung keinen Raum geben. Es war schon genug, dass die Stimme des Kidnappers immer wieder durch ihre nächtlichen Träume dröhnte und höhnte. Das geschah immer dann, wenn sie es tatsächlich einmal geschafft hatte einzuschlafen. Merkwürdigerweise fand Jasmin aber nichts Beängstigendes an der Vorstellung, in die Wohnung einzuziehen, in der Ilka ähnlich Schlimmes erlebt hatte. Noch dazu hätten hier beinahe ihr Vater, Jessy und Robert den Tod gefunden. Angesichts des Albtraums, der damals ihr eigenes, sehr reales Leben gewesen war, erschienen ihr die Schrecknisse der anderen jedoch beinahe wie ein Märchen aus uralten Zeiten. Außerdem: Die Bude hier würde nach der Maleraktion und mit ihren eigenen Möbeln eine ganz andere sein als zuvor: Tapetenwechsel für Außen- und Innenräume war angesagt. Sogar der Therapeut, der Jasmin beim Aufarbeiten ihrer traumatischen Erlebnisse zur Seite stand, hatte den Umzug befürwortet.

      „Aufwachen, Prinzessin!“, beendete Nick ihre Tagträumereien.

      Jasmin blinzelte, als wäre sie gerade aus einem langen Mittagschlaf erwacht. Sie blickte sich in dem noch kahlen, nach frischer Farbe riechenden Zimmer um und trat dabei einen Schritt zur Seite.

      „Vorsicht!“, schrie Robby in ihre Richtung und Jessica brachte nur noch ein quietschiges „Oh, nein!“ zustande. Dann war es auch schon passiert: Jasmin hatte ihren noch immer auf dem Boden knienden Freund übersehen. Mit einem kurzen Kreischen stolperte sie über ihn und stürzte. Nick wirbelte herum, um nach Jasmin zu greifen. Er fing sie auf, bevor sie sich den Kopf an der Wand stoßen konnte. Dabei kippte er allerdings den Farbeimer um. Dessen Inhalt ergoss sich mit einem schmatzenden „Schwapp“ auf die ausgebreiteten Bögen Zeitungspapier. Nick umklammerte noch immer fest seine Märchenprinzessin, konnte aber das Gleichgewicht nicht mehr halten. Er und Jasmin landeten in der ekelhaft klebrigen Brühe. Farbe spritzte auf. Die vier Nachwuchsmaler und eine der Wände waren mit einem Mal weiß gesprenkelt. Wohin man auch schaute, die Tünche war überall. Zielsicher suchte sie die Ritzen zwischen den alten Zeitungen auf, um Richtung Fußboden weiterzublubbern. Nick und Jasmin hatten die meisten Farbspritzer abbekommen. Die beiden saßen in einer weißen Lache und sahen aus, als litten sie an einer merkwürdigen Abart der Masern. Zunächst blickten die zwei sich wütend an, aber als Jessica schließlich ihr unverkennbares Lachen hören ließ, wich der Ärger. Auch der Schreck war schnell vergessen. Jasmin und Nick prusteten los. Strahlend und glucksend drückte die farbverschmierte Prinzessin ihrem ritterlichen Freund und Hofzauberer einen Kuss auf den matschigen Klecks, unter dem sie die Backe vermutete.

      „Läuft alles, wie es soll?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang nervös. Das Schweigen war zu einer Art Ritual zwischen den beiden Männern geworden.

      Der Anrufer lauschte. „Ja“, dachte er. „Ja, kau’ nur an deinem elenden Kugelschreiber rum. Ich hoffe, du verschluckst ihn eines Tages! Und wenn du dran verreckst, werde ich jede Nacht höchstpersönlich auf dein Grab pinkeln!“

      Erschrocken biss er sich auf die Lippen. Hatte er das jetzt wirklich nur gedacht? Oder hatte er wieder einmal schneller geplaudert, als sein Hirn die Worte zur allgemeinen Verbreitung freigeben konnte?

      Der andere blieb ruhig. Ein Klacken verriet, dass er seinen Stift zur Seite legte. Damit begann immer der entscheidende Teil ihrer Telefonate.

      „Ihr macht sie also fertig?“

      „Wie geplant! Heute Abend. Soll ich meinen Benzinkanister ein wenig spazieren führen?“

      „Tu, was du nicht lassen kannst, Kleiner!“

      „Dann müsste ich dir gehörig die Fresse polieren und dich in Jauche ersäufen!“ Der Anrufer grinste: Es war wirklich nur ein Gedanke gewesen. Sein Ruf, schneller zu reden als zu denken, war ihm wohl doch etwas überstürzt vorausgeeilt. Warum nur musste dieser Kerl ihn in der Hand haben? Am liebsten hätte er den Großkotz in den Staub getreten wie ein wertloses Insekt und danach die Karten in der Organisation neu gemischt. Dummerweise hatte er sich einmal von seinem derzeitigen Boss übervorteilen lassen. Damit war er zu ewigem Speichellecken verdammt. Trotzdem hielt ihn der Gedanke, dass es um etwas Großes, Wichtiges ging, bei der Stange. Schließlich verfolgten sie dieselben Ziele und der Kugelschreiberschreck war definitiv der bessere Planer von ihnen beiden. Aber dennoch: Vom Thron gestürzt zu werden, war nichts, das man so leicht verdaute. Jedenfalls nicht ohne heftigste Blähungen.

      „Keine Probleme wegen der benachbarten Anwesen?“, tönte es aus der Muschel.

      Okay, hier ging es um die Sache, nicht um die Demonstration gegenseitiger Abhängigkeit. „Alles abgecheckt. Genug Natur dazwischen. Ich wette, wir fallen gar nicht auf. Ist ja auch ’ne Ausflugsgegend. Wenn uns jemand sieht, meint er bestimmt, wir machen Urlaub auf dem Bauernhof.“

      „Gut, gut! Und nicht vergessen: Macht sie fertig, aber kein Mord, ist das klar?“

      „Schade!“, dachte er diesmal, sagte aber: „Klar!“

      „Eine jammernde Göre, die anschließend aller Welt erzählt, wie schrecklich wir sind, ist wertvoller als jemand, der sich auf ewig über uns ausschweigt. Wir müssen den Druck erhöhen, bis kein Ventil ihn mehr hält. Der Rest wird sich dann irgendwann von selbst erledigen! Aber gehen wir ans Eingemachte: Wann könnt ihr loslegen?“

      „In einer Stunde!“

      Ein kurzes Kaugeräusch, Amalgam auf Plastik war zu hören, dann, statt eines Abschieds: „Ich erwarte deinen Bericht!“

      „Eigentlich müsste ich heulen und mich bemitleiden!“, dachte sich Else. Sie blickte durch ihr Küchenfenster auf die immer dunkler werdende Frühabendsonne, die sich gähnend und behäbig dem Horizont näherte. Die Kaffeetasse fühlte sich mittlerweile fast frostig an. Else hob sie an die Lippen und schlürfte die lauwarme Brühe. Der schale Geschmack erinnerte an das Aroma abgestandenen Heizöls. Else schüttelte sich, stand auf, ging zur Spüle und überantwortete den letzten Rest ihres Kaffees schwungvoll dem Ausguss. Das Gluckern aus der Leitung erinnerte sie an jenes peinlich berührte Gurgeln in Mr. Mathes Hals, als er sie mit der Wahrheit konfrontiert hatte.

      „Du kannst hier wohnen bleiben, Else. Weißt du, Brenda und ich, wir … nun, sie hat ein Haus, ganz in der Nähe. Vielleicht …“ – da war es gewesen, dieses Gurgeln, das direkt aus dem Trainingscamp für Mundwasserwerbung zu kommen schien – „… wir könnten doch – äh – ich weiß, das klingt abgegriffen, aber wir …“

      „Ich scheiße auf deine Freundschaft, falls du das meinst!“, hatte Else ihm hysterisch entgegengebellt und ihm so den Allgemeinplatz par excellence erspart. „Brenda? Aus welcher Daily Soap hast du die denn entführt?“

      Er tat verletzt. „Brenda ist Physikerin. Sie genießt höchstes Ansehen …“

      „… jedenfalls mehr als eine lausige Ex-Kommissarin der hiesigen Polizei, was? Und sie versteht was von Formeln und Gleichungen, oder?“

      Nicht zu fassen: Wegen diesem Mann hatte sie einmal ihre Ehe mit Fox Prancock aufgegeben und damit das Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter lange Zeit auf Eis gelegt. Langsam verstand sie, warum Jasmin immer so spöttisch von ihrem früheren Mathelehrer gesprochen hatte: In seinen Augen folgte das ganze Leben ausschließlich den Gesetzen der Algebra. Die zerbrochene Beziehung war für ihn nur eine Ungleichung und Else lediglich eine Variable. Ausgerechnet diese stand, im Gegensatz zu der anderen Unbekannten, jetzt auf der „Kleiner“-Seite des Terms.

      Klirrend zerschellte die Tasse an der Wand. Ein Rest Kaffee verschönerte selbstlos das karge Tapetenmuster und durchbrach dessen kühle Symmetrie. Else starrte den braunen Fleck an.

      „Leben!“, fuhr es ihr durch den Kopf. „Leben zwischen erstarrten Formen. Das wirst du nie schaffen mit deiner Reagenz-Brenda!“

      Else erschrak über sich selbst. Dass sie ihre Wut so exzessiv auslebte, war ihr fast ein wenig peinlich. Es war beinahe wie am Ende ihrer Ehe mit Prancock. Sie starrte adrenalinberauscht in die Scherben, die auf dem Teppich ein modernes Ballett