Sie blieb vor dem großen Doppelbett stehen und hatte den Blick starr auf die Szene gerichtet, die sich direkt vor ihren Augen abspielte.
Urplötzlich schrak Fox auf. Er sah Ilka und schaute verdattert zu ihr hoch. Nach einer Sekunde des Schweigens meinte er: „Hallo, Schatz! Sorry, hab dich gar nicht gehört! Hilfst du mir mal, diesen dämlichen Koffer zuzukriegen?“
Ilka musste laut lachen, als sie Fox so zwischen Bett und Kommode auf einem hoffnungslos überfüllten Reisekoffer knien sah. Er versuchte, ihn mithilfe des eigenen Körpergewichts und einer Gürtelschlinge zu schließen.
„Was gibt’s da zu lachen? Ich dachte mir eben, ich fange schon mal an mit der Packerei!“
„Und ich war immer davon überzeugt, dass es eher ein weibliches Problem ist, das Reisegepäck unterzukriegen!“, spöttelte sie gut gelaunt. Dann ging sie zu Fox, strich ihm zart durch die Haare und beugte sich zu ihm herab. Er küsste sie kurz, aber seinen freudigen Willkommensblick genoss Ilka noch viel mehr.
„Sag mal, Fox, muss dein zweiter Trench denn mit? Es reicht doch der, den du anziehst, oder? Außerdem haben wir fast Sommer!“
„Na gut, Frau Reiseleiterin! Aber ich sage Ihnen: Wenn ich mir im eisigen Frankreich den Arsch abfriere, dann …“, murrte Prancock, ließ die Drohung aber unvollendet. Schließlich zog er den Mantel aber doch aus den abenteuerlich zusammengeknüllten Klamotten heraus. Mit einem lauten „Hauruck!“ schafften sie es schließlich tatsächlich, den Deckel so weit herunterzudrücken, dass die kleinen Schlösser des Koffers einschnappten.
Fox richtete sich auf, wischte sich Schweiß von der Stirn und nahm Ilka in die Arme. „Jetzt erst mal richtig ‚Hallo‘!“
Sie strahlte ihn an, doch mit einem Mal wurde ihr Blick fahl. Wie schockgefroren stand sie vor ihrem Freund. Die dunklen Augen starrten ausdruckslos durch Fox hindurch.
„Was hast du denn?“, fragte er verwirrt.
Mit einer zaghaften Handbewegung bedeutete Ilka ihm, zum Bett hinüberzusehen. Auch Fox verwandelte sich augenblicklich in einen Eisblock: Auf dem Oberbett lagen zwei Stapel Herrenunterwäsche und ein buntes Knäuel Socken. Wieder blickten die zwei sich an, prusteten laut heraus und ließen sich auf die Bettkante plumpsen.
„Wollen wir vielleicht nicht erst was essen?“, fragte Ilka.
„Ich hatte schon ein Hühnchen. Für dich ist noch eins da.“
„Und Jasmin?“
„Konnte nicht sagen, ob sie noch mal vorbeischaut. Sie wollte mit ihren Freunden von der Band so viel wie möglich in der Wohnung erledigen.“
Der Taxifahrer hatte nicht schlecht gestaunt, als seine Fahrgäste einstiegen: vier farbverschmierte Jugendliche mit verkrusteten Klecksen auf der Kleidung, in den Haaren und Gesichtern.
„Seid ihr Schwarzarbeiter auf der Flucht vor den Bullen?“, juxte er unbefangen. Verwundert musste er allerdings feststellen, dass niemand auch nur ansatzweise über seinen Witz lachte. Die vier erschienen stattdessen ungemein nervös und angespannt.
„Wohin soll’s denn gehen?“, fragte er Jasmin, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.
Sie reagierte zunächst überhaupt nicht, sondern zitterte nur vor sich hin.
„Die Kleine ist in ihren Gedanken aber ganz weit weg“, stellte der Fahrer fest. Er musterte die junge Kundin verstohlen aus den Augenwinkeln und sah, dass sie Gänsehaut auf den Armen hatte.
„Wohin bitte?“, fragte er nochmals. Als er wiederum keine Antwort bekam, stieg seine Verwunderung weiter an und er räusperte sich.
In diesem Moment schrak das Mädchen neben ihm hoch, als hätte er sie aus einem schlimmen Traum gerissen. „Entschuldigung!“, nuschelte Jasmin kurz, dann nannte sie die Adresse von Jeannies Bauernhof.
„Wird gemacht!“, bemerkte der Mann und fuhr los.
Mit Fahrrad und Bus hätte es zu lange gedauert, darüber waren sich Jassy, Jessy, Robby und Nick sofort einig gewesen. Flugs hatte man beschlossen, das für die Pizza verplante Geld in eine Taxifahrt zu investieren, auch wenn man vor dem Fahrer nicht offen reden konnte.
„Was war da nur los?“, randalierte die Ungewissheit in Jasmins durcheinandergewürfelter Gefühlswelt. Und noch eine weitere Frage machte Bungeesprünge in ihrem Kopf: „Warum keine Polizei?“
Jeannie wusste, dass Jasmin und ihr Vater inzwischen ein wirklich erwachsenes Vertrauensverhältnis zueinander hatten. Warum war es ihr dann so wichtig, dass die Polizei außen vor blieb, selbst wenn es um Leben und Tod ging?
„Ganz schön weit draußen!“, unternahm der Mann am Steuer seinen letzten Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen. Mit einem freundlichen Seitenblick in Richtung Jasmin bemühte er sich, eine Reaktion zu erheischen. Das Mädchen sah nur flüchtig zurück. Ein scheues Lächeln blitzte kurz in ihrem Gesicht auf. Danach starrte sie wieder hinaus in die Nacht. Die Dunkelheit verschlang die schwachen Strahlen der maroden Scheinwerfer wie ein kleines Häppchen für zwischendurch. Auch die Lichter der Vorstadt waren mittlerweile nur noch eine Ahnung auf trüben Rückspiegeln.
Dem Fahrer wurde mehr und mehr mulmig: Noch nie hatte er eine Wagenladung von Jugendlichen transportiert, die nur geschwiegen hatten. Außerdem: Was wollten die vier um diese Zeit auf einem alten, einsamen Bauernhof? Wenn Teenies einstiegen, ging’s normalerweise in die Disco und schon der Trip dorthin wurde zur Party. Meistens hatte er bei solchen Fahrten die neuesten Jokes, Hits und Trends mitbekommen.
„Es ist einfach auf nichts Mehr Verlass“, dachte er bei sich, „nicht mal mehr auf die Jugend von heute!“
Er schüttelte kurz den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Jessica bemerkte, dass sich Jasmins Finger in die Bezüge des Beifahrersitzes krallten. Sie blickte hinüber zu Nick, der blass und teilnahmslos aus dem Seitenfenster stierte. Von Zeit zu Zeit strich er mit dem Rücken seines Zeigefingers über die Scheibe, als wollte er, wie im Winter, den Beschlag vom Glas wischen. Sein nahezu apathisches Schweigen verwunderte Jessica: Auch wenn Nick ab und an eifersüchtig auf Jeannie, Ilka oder sie selbst war, käme es ihr niemals in den Sinn, an seiner Loyalität zu zweifeln. In Krisen- oder Katastrophenfällen hatte er immer Ideenreichtum und Tatendrang an den Tag gelegt. Nicht selten war ihm buchstäblich in letzter Sekunde der rettende Einfall gekommen, den er dann mit schöner Regelmäßigkeit aus dem Hut gezaubert hatte. Jessica stieß Robby leicht in die Seite. Ihr Freund wandte ihr den Kopf zu, zuckte kurz mit den Schultern und sah dann ebenfalls wieder geradeaus. Gut, beruhigte sich Jessica, für Robby ganz normal: einfach mit großen Augen dem entgegensehen, was da kommt.
In Jasmins Gedächtnis hatte jemand „Repeat“ gedrückt. Wieder und wieder hörte sie, wie ihre kleine Hexe nach ihr rief: „Jasmin! Bitte!“ Sie fühlte sich schuldig, die Freundin alleine gelassen zu haben. Krachen und Splittern ließen Jassys Brummschädel nahezu bersten. Immer lauter donnerten die zerstörerischen Schläge und entluden sich in einem Gewitter aus purem Hass. Zwischen explosionsartigem und wuchtigem Tosen ging das Flehen und Kreischen mehr und mehr unter: „Jasmin! Jasmin!“ Dieser Soundtrack passte jedoch nicht zu dem rasant geschnittenen Videoclip in Jassys Kopfkino. Aufnahmen von wundervollen, gemeinsamen Momenten flitzten vorbei: Sie tanzte mit Jeannie um ein nächtliches Lagerfeuer, schwamm mit ihr im klaren Wasser eines Waldsees und blickte ihr immer wieder tief in die unergründlichen Augen.
Das Taxi passierte eine Bushaltestelle. Szenenwechsel: Die erste Begegnung mit Jeannie. Genau hier war es gewesen, vor gar nicht allzu langer Zeit. Jasmin hatte