„Sorry, äh, Pardon, aber das letzte Mal hatten wir Hummerfilet, das war irgendwie leichter zu essen!“, stotterte Fox verlegen.
Ilkas Magen krampfte sich zusammen – Hummerfilet! Wie kam Fox nur auf so einen Quatsch? „Da könnte er ja gleich Walnüsse filetieren!“, schoss es ihr durch den Kopf.
Ein kurzes, trockenes „Ich verstehe“ beendete ihren Gedankengang. Dieser Einwurf des Kellners klang für eingefleischte Kenner klassischer Gallier-Comics eher wie ein „Die spinnen, die Römer“. Der Blick des Obers wurde noch besorgter. Nach einer kurzen Denkpause ergriff er, „Pardon“ nuschelnd, Ilkas Hand. Er gab ihr die kleine Zange und führte diese zum Panzer des Hummers. Schließlich setzten sie gemeinsam dazu an, ihn zu knacken.
„Voilà!“, sagte er und bewegte mit einem schnellen Ruck Ilkas Finger. Leicht knirschend gab der Hummer etwas Essbares preis. „Jetzt Sie, Monsieur!“, forderte der Kellner Fox auf.
„Sind wir hier bei ,Spiel ohne Grenzen‘?“, dachte sich dieser. Er setzte nun seinerseits die Zange an, genau so, wie er es bei Ilka beobachtet hatte.
„Wenn das jetzt nicht klappt, bin ich total blamiert!“, wurde ihm schlagartig bewusst. Erneutes Knacken und Knirschen ertönte – und plötzlich applaudierten die anderen Gäste. Prancock und Ilka lächelten gequält. Mit geröteten Wangen blickten sie kurz in die Runde. Endlich konnten sie sich an die genießbaren Partien ihres exquisiten Gerichts heranarbeiten.
„Merci beaucoup!“, bedankten sich die beiden vorgeblichen Hummerfans bei dem sorgengefurchten Ober. Dieser widmete sich nun, entrückt lächelnd, den übrigen Gästen.
Trotz des erhaltenen Schnellkurses war die Ausbeute des Abendessens nicht besonders groß. Fox’ hungrigen Magen hatte es nicht befriedigen können. „Jetzt ’ne Portion Pommes mit Mayo oder noch besser: Fish and Chips! Das wär’s“, dachte der Kommissar. Allerdings war noch ein anderes Gefühl wesentlich stärker spürbar als nur der Hunger: Neugier! Sie rüttelte seinen Jagdinstinkt mit vorpreschender Ungeduld wach. Gleichzeitig musste er schmunzeln in Erinnerung daran, wie Ilka und er vor dem Dinner in verschwörerischer Zweisamkeit auf ihrem Zimmer erste Spuren ausgewertet hatten.
Gestochen scharf lief die Szene noch einmal vor seinem inneren Auge ab: Das Mäppchen, das Ilka mit ihren Taschendieb-Tricks aus dem Trenchcoat gefischt hatte, war eine reine Fundgrube. Ein Etikett wies diesen als Eigentum von Walter Finkenwald, London, aus. Diese Entdeckung hatte Ilka zu einem so lauten „Yeah!“ veranlasst, dass Fox vorsorglich das Fenster geschlossen hatte. Zwischen Kreditkarten und verschiedenen Ausweispapieren war ein Foto herausgefallen. Ilka hatte es aufgehoben und stirnrunzelnd betrachtet. Minutenlang hatte Fox versucht, in ihrem Gesicht zu lesen, aber seine Freundin schien ihre Emotionen gut verborgen zu haben. Schließlich hatte sie ihm das Bild gereicht und gesagt: „Hübsch, nicht?“
Er hatte die Fotografie in Augenhöhe gehalten und sie prüfend betrachtet. Eine junge Frau von vielleicht 21 oder 22 Jahren strahlte ihm entgegen. Ihre überzeugenden, dunklen Augen schienen mit einem Hauch Melancholie in die seinen zu sehen. Heller Teint, eine kurze Nase und eine dunkelbraune Locke, die sich über der Stirn kräuselte, sowie kurzes, sanft gewelltes Haar formten zusammen mit einem kleinen, lachenden Mund und einem etwas spitzen Kinn ein Gesicht, das Fox augenblicklich faszinierte.
„He, guck nicht so verliebt“, schnaubte Ilka Prancock an, „sonst verpasst du in deinem Hormonrausch noch das Beste!“
Verwirrt riss sich Fox von dem betörenden Anblick los. Er bemerkte, wie Ilka mit glühenden Augen das Bild in seiner Hand anstarrte.
„Was ist denn?“, fragte er und versuchte Ilkas Blick zu durchdringen.
Diese zeigte wortlos auf das Bild und deutete mit einer Handbewegung ein „bitte wenden“ an.
Augenblicklich folgte er der Aufforderung und betrachtete die Rückseite des Fotos. Eine gleichmäßige, elegant geschwungene Schrift verkündete mit violetter Tinte: „Alles Liebe! Deine Valerie!“ Darunter kunstvoll geschwungene Zahlen.
„Ein Datum!“, stellte Fox kurz und knapp fest.
„Welch aufregende Erkenntnis!“, flötete Ilka, mit den Augen rollend.
„Verarschen kann ich mich selber!“, reagierte Fox ungewohnt gereizt, um dann mit etwas versöhnlicherem Ton anzumerken: „Ist einen Monat alt!“
„Dafür sieht sie aber ziemlich erwachsen aus.“
„Die Widmung meine ich!“ Fox legte das Bild zu den Papieren, die sie auf dem kleinen Schreibtisch ausgebreitet hatten. Schweigend und konzentriert blickten sie auf die Ansammlung: ein englischer Presseausweis, ein „Certificate of Membership“ der „British Writers’ Association“, ein Personalausweis und Futter für Geldautomaten. Fox nahm eine Kennkarte und betrachtete das Foto. Bereits beim ersten Durchsehen der Dokumente hatte er Ilka etwas verschwiegen: ein Déjà-vu – er war davon überzeugt, das Antlitz von Walter Finkenwald schon einmal gesehen zu haben. Er konnte nicht sagen, wann und wo, war sich aber sicher, es eindeutig als das auf dem Passbild zu identifizieren. Valeries Gesicht dagegen war ihm völlig unbekannt.
„Warum erzähle ich Ilka eigentlich nichts von Nocturne und meinem Gespräch mit dem jungen Kellner?“, fragte sich der Kommissar wieder und wieder. Er fand selbst kaum eine vernünftige Erklärung. Auch die Violon-Mühle hatte er nicht erwähnt. Er fühlte sich schuldig, seiner Freundin gegenüber nicht völlig offen zu sein, aber irgendein undefinierbares Grummeln aus den Tiefen seines Magens riet ihm, die Klappe zu halten. Gleichzeitig sausten ihm aber Engelchen durch den Kopf, die ihn ermahnten: „He, so nicht. Es würde doch nur deinen Stolz verletzen, wenn dein liebes Kätzchen mehr herausfinden würde als du selbst, oder?“ Glücklicherweise kamen aber auch einige Teufelchen auf ihren Pferdefüßen herangehumpelt, um ihm zu Hilfe zu eilen: „Quatsch mit Soße, ihr flügellahmen Besserwisser! Die Sache stinkt zum Himmel und unser Fuchs will seine geliebte Herzdame nicht in Gefahr bringen, klar?“
Bingo! – Das war es! Endlich hatte Fox eine Erklärung für sein Verhalten. Noch dazu eine, die ihn selbst überzeugte. Automatisch stellte die Sprudelmaschine im Bauch ihr Grummeln ein und Fox’ Anspannung widmete sich wieder ganz der rätselhaften Angelegenheit, in der er herumstocherte. Ein dauerhaft schlechtes Gewissen wäre ihm nur hinderlich gewesen.
„Da ist noch was!“, unterbrach Ilka Prancocks introvertierte Selbstreflexion. Sie hatte ein kleines, geklammertes Heftchen, kaum größer als ein Streichholzmäppchen, aus der Brieftasche gezogen.
„Lass mal sehen!“
„Jetzt bin ich mal dran, mein liebes Füchslein!“
Prancock konnte seine Neugier kaum bremsen, während er seiner Freundin beim Durchblättern des Heftes zusah.
„Ein Terminkalender!“, murmelte Ilka vor sich hin.
„Sieh doch mal nach, ob er Pläne für heute hatte!“, schlug Prancock vor.
Ilka blätterte kurz, dann pfiff sie durch die Zähne. „Er wollte sich heute mit Valerie treffen!“
„Wie bitte?“
Wortlos hielt die Reporterin dem Kommissar eine Seite des Terminplaners vor die Nase. Direkt hinter dem aktuellen Datum stand mit einem klecksenden Kugelschreiber notiert „V. MILL“.
Die Überraschung stand Fox so offenkundig ins Gesicht geschrieben, dass Ilka nachfragte: „ Ist dir schlecht? Von der Torte oder so?“
„Nein, nein“, versicherte Prancock eilig, „aber ist es nicht klasse, dass wir jetzt auch Valeries Nachnamen kennen?“
Die Engelchen in ihm liefen wieder Sturm: „Hör mal, es reicht schon, dass du dauernd den großen Beschützer spielen willst, aber das Kätzchen bewusst auf eine falsche Fährte zu locken, ist mehr als dreist … wie ein Tritt