„Mensch, Merlin“, lächelte Jessica ihrem Bandkollegen zu, „so kenne ich dich!“
Ihr Lieblingsbassist schien langsam zu seiner alten Form zurückzufinden und sich aus seinem Schneckenhaus zu verabschieden. Umso mehr bereitete es ihr Sorgen, dass Jasmin keinerlei Reaktionen auf Nicks neue Lockerheit erkennen ließ. Jassy starrte in das Feuer. Hin und wieder redete sie mit ihr, Robert, Jeannie, Yasemin und Mehmet, aber Nick schien für sie vom Winde verweht zu sein.
„Wie wär’s mit ’ner kleinen Session?“, fragte zur Verwunderung der Bandmitglieder ausgerechnet Yasemin, die ihre Saz bereits hervorgezogen hatte.
„Gute Idee!“ – „Yeah!“ – „Klasse!“, tönte es aus mehreren Kehlen. Nur Jan Thalmann sah die junge Kurdin feindselig an, die offenkundig seiner Freundin die Show stahl.
Jasmin holte sofort ihre Gitarre, Robert ein Paar Bongos. Auch einige der ausländischen Feiernden hatten Instrumente dabei und bald ertönten Gitarren, Trommeln, Saz, exotische Flöten und Saiteninstrumente. Sie bildeten einen improvisierten Multikulti-Soundtrack und ließen die Welt ein wenig kleiner erscheinen, als sie war.
„Wie wär’s“, sagte Jessica aufmunternd zu Nick, während sie aufstand, „für Keyboard und Bass fehlen hier einfach die Steckdosen, läufst du mit mir Patrouille?“
„Jawohl, Herr Oberst!“, verfiel Nick ironisch in eine Art Rekrutenton. Er erhob sich ebenfalls und beide begannen nebeneinander hertrottend ihren Rundgang um das Gehöft.
„Sag mal“, überwand sich Jessica nach einer Weile zu einer Frage, die ihr unbequem, aber auch unausweichlich erschien, „gibt’s Stress mit dir und Jassy?“
Nick blieb stehen und sah sich um: Das Feuer war nur noch ein schwaches Flackern hinter ihnen, der Hof ein Schatten zwischen Bäumen und Büschen. Frösche und Nachtvögel übertönten schon beinahe die Musik. Der Abstand zu Jasmin war groß genug, zumindest geografisch gesehen. Dennoch schwieg Nick. Er stand unbeweglich in der Finsternis und starrte zurück auf das Lagerfeuer.
„Nick“, wagte Jessy eine weitere Frage, „gibt es da was, was du mir erzählen möchtest?“
„Guter Mond, du gehst so stille hinter einer Wolke auf das Klo!“, summte Fox einen alten Hit aus „Prankes fröhlichen Kinderliedern“ vor sich hin. Der Himmel hatte sich im Lauf des Tages nicht völlig abgeregnet und so warfen nur wenige Sterne ihr Licht zwischen dunstigen Wolkenfetzen auf die Erde. Schwach zeichneten sich die Umrisse einer Tafel vor den Bäumen des Waldes ab. Prancock trat vor das Schild, kramte seine Taschenlampe hervor und bald wanderte ein flackernder Lichtkegel über eine hölzerne Wanderkarte. Deren Genauigkeit und Übersichtlichkeit hätte ein „gut gemeint“ verdient. Nebel und Atemhauch wirbelten im funzeligen Strahl der Lampe wie Qualm im flirrenden Laser einer Disco. Die Musik dazu lieferte DJ Nachtkauz. Der schon leicht schwächelnde Lichtkreis umrahmte schließlich ein rotes „X“.
„Aha, hier sind wir also!“, stellte Fox fest. Er hielt den Prospektfetzen an die Tafel. Mit zwei Fingern drehte und wendete er den Schnipsel, bis das abgebildete Gewirr aus Linien und stilisierten Bäumen jenem auf dem Schild wenigstens annähernd glich. Gerade in diesem Moment strich ein unerwarteter Windhauch durch die Bäume, ergriff das Papierchen und riss es Prancock aus den Fingern. Fox fluchte leise und griff nach dem davonfliegenden Fetzen. Dabei entglitt ihm die Taschenlampe, die sogleich mit einem blechernen Knirschen auf dem Waldweg landete. Ein letzter Funke entwich ihr, als würde die Seele eines jüngst Entschlafenen verlöschen. Fox bückte sich nach der Funzel. Er konnte seine Wut nur noch mit größter Mühe unterdrücken. Mitten in der Bewegung stieß er sich den Kopf am Rahmen der Tafel.
„Aua!“, presste er hervor, richtete sich auf und trat nach der geborstenen Taschenlampe. Wider Erwarten traf er sie so genau, dass sie in hohem Bogen durch die nächtliche Waldluft schwirrte. Laut klirrend prallte sie gegen einen Baumstamm. Ein entsetzter Uhu erhob sich fluchtartig aus dem Geäst und rief dem verdutzten Kommissar ein tadelndes „Uuu-uuuu – huuuuuuu!“ zu. Fasziniert sah Fox dem Vogel nach, der mit elegant anmutendem Flügelschlag entschwebte.
„Oh, Herr Mond hat sein Geschäft verrichtet“, sagte Prancock zu sich selbst, „dann kann ich’s auch ohne Lampe schaffen!“ Tatsächlich trat der fahle Trabant wieder aus der himmlischen Toilette hervor und Fox warf einen letzten prüfenden Blick auf das Schild. Ein mit wenigen Strichen angedeutetes Mühlrad, daneben eine stilisierte Geige: Das dürfte die Violon-Mühle sein. Wenn der Kartograf nicht jegliches Gefühl für Maßstäbe verloren hatte, war sie gar nicht weit weg.
Wieder atmete Fox tief ein. Er spürte die neblige Feuchtigkeit im Mund und ließ sich das würzige Aroma des Nadelwalds auf der Zunge zergehen. Dann schlug er den Kragen seines Trenchcoats hoch, stapfte los und folgte dem Weg auf der linken Seite der Hinweistafel.
Der Nebel verdichtete sich zunehmend, ging aber bald in feines Nieseln über. „Jetzt noch Blitz und Donner, dann haben wir alle Krimiklischees durch!“, stellte Fox fest. Nachdem er versucht hatte, seinen Kragen noch höher zu ziehen, sah er sich um und blinzelte. Zwischen vereinzelten Dunstschlieren konnte er den Weg im Mondlicht relativ gut erkennen.
„Hänsel und Gretel, Part two!“, kinematografierten Prancocks Gedanken den nächtlichen Alleingang. Zweifel hegte er nur bei der Auswahl des passenden Untertitels: „,Hänsel kehrt zurück‘? – nö, zu lasch. ,Die Rache des Hänsel‘ klingt gut, aber wofür rächt er sich eigentlich und vor allem: an wem? An Finkenwald?“
Fox fragte sich, ob er diesen mysteriösen Walter überhaupt bei der Mühle antreffen würde. Hatte der Verschwundene die Spur mit dem Trenchcoat im ,Joli Bois‘ bewusst gelegt oder war das ein panisches Versehen gewesen? Mürrisch kickte Fox einen Tannenzapfen beiseite. Er versuchte sich in Finkenwald hineinzuversetzen.
„Okay, ich bin good old Walter aus London. Ich brauche Hilfe, fühle mich von einem gewissen Nocturne verfolgt. Da taucht ein Bulle auf, dem ich mein Zimmer überlasse und ...“
Fox zuckte zusammen und blieb stehen. Hatte da nicht jemand „Quatsch“ gerufen? Der Kommissar lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Tatsächlich ertönte umgehend wieder das Spottlied eines Waldvogels. „Könnte wirklich ,Quatsch‘ heißen!“, sinnierte Prancock. Egal, ob das französische Federvieh sich in Fremdsprachen übte oder nicht, es passte: Die ganze Story war noch nicht mal so schlüssig wie ein „Gary Button“-Roman. Zu viele Fragen und Unwägbarkeiten blieben offen. Selbst die für Fox typische Hauruck-Psychologie war damit überfordert. Er schlurfte weiter und in seinen Gedanken kreiste Fragezeichen um Fragezeichen.
Trotz der verwirrenden Endlosschleifen, mit denen dieses Rätsel wieder und wieder durch sein Gehirn jagte, nahm er bald das Geräusch fließenden Wassers war – ein gutes Zeichen, wenn man eine Mühle suchte. Seine Augen hatten sich so sehr an das matte Schimmern des Mondes gewöhnt, dass Prancock nicht einmal stehen blieb, um sich neu zu orientieren. Zielsicher ging er in die Richtung, aus der es zunehmend lauter plätscherte. Er war dankbar für das rege Treiben der Vögel und anderer nachtaktiver Tiere: Es flötete und knackte so beständig aus allen Richtungen, dass er nicht bei jedem Schritt auf Geräuschlosigkeit achten musste. Dennoch verlangsamte er den Gang, als er hinter der nächsten Wegbiegung ein Gebäude erblickte. Auch wenn es sich nur schemenhaft vom dunklen Wald abhob, waren die Konturen gut erkennbar. Der Schattenriss glich deutlich dem Bild im Prospekt. Hänsel stellte fest, dass er angekommen war. Dieses Hexenhaus konnte nur die Violon-Mühle sein. Während er sich bewusst im Schatten von Bäumen und Büschen bewegte, entschied sich Fox dazu, Indianer zu spielen: Anschleichen und beobachten war angesagt. Als er das Tor eines Zaunes in Sprungweite hatte, verharrte er, immer darauf bedacht, im Dunkeln zu stehen. Er hielt die Luft an. Von der Violon-Mühle her hörte er – nichts. Gut, einige Scharniere von losen Fensterläden oder Türen knirschten im Takt des nächtlichen Windhauchs. Ansonsten war nur das monotone Konzert der Eulen und Käuzchen um ihn herum zu vernehmen.
Fox wagte einen Schritt in das Mondlicht und griff nach einer rostzerfressenen Klinke. Er drückte sie vorsichtig herunter. Das Krächzen des antiken Schlosses war so laut, dass Fox mit einem Sprung wieder in den Schatten hechtete. Sein Herz wummerte wie der Bass eines überdrehten