Die Melodie schrieb Yasemin mit ihren Fingern auf die Bünde und Saiten ihrer Saz. Die Töne, die aus den Boxen klangen, trafen sie plötzlich und unerwartet mitten ins Herz. Wieder durchfluteten Bilder das Mädchen: die Erinnerung, wie der Vater ihre noch kleinen Finger auf die Saiten einer Saz legte und ihr zeigte, wie sie das Instrument halten musste. Dieses Lächeln würde sie nie vergessen und auch nicht den stolzen Blick ihrer Mutter, als sie erste Kinderlieder begleiten konnte.
Robert legte eine härtere Gangart ein, Jessica wechselte zu einem etwas schrilleren Sound, Jasmin zupfte die Gitarre nicht mehr, sondern ging zu einem treibenderen Schlagrhythmus über, Nicks Bass spielte nun Achtel- statt Viertelnoten.
Yasemin ließ die Töne einfach in ihre Finger gleiten. Orientalisch anmutende Verzierungen bereicherten jetzt den Rocksound. Das Tempo wurde angezogen. Auch die Bilder veränderten sich: Harmonische Szenen aus der Familie und vom Spiel mit anderen Kindern wurden weggewischt wie Kreidekritzeleien auf einer Schultafel. Ein Crescendo von Becken und Toms öffnete ein dunkleres Erinnerungsalbum – Flucht! Vater und Mutter bleiben zurück. Angst, Kälte. Das Geschaukel des Lastwagens. Wieder Angst, Panik, endlose Trauer. Ihr Plektrum strich nicht mehr über die Saiten, es schlug sie hart an, riss fast an ihnen.
Jessica erweiterte ihre Grundharmonien um die Töne, die Yasemin in die Melodie eingeflochten hatte. Die Saz sang laut und ohne Worte von Verzweiflung, Furcht und Abscheu.
Widerwärtige Szenen überschlugen sich in Yasemins Kopf: „Du willst doch sicher nicht, dass ich die Polizei rufe, Mädchen? Die würden dich bestimmt nach Hause bringen. Aber sieh mal: Mein kleiner Freund braucht dich und du brauchst mich.“ Sie erinnerte sich an alkoholgedünsteten Schweiß, hatte den unerträglichen Geschmack schleimigen Ejakulats auf der Zunge, spürte die groben, pratzenhaften Hände auf ihrem Hinterkopf, die ihr Gesicht wieder und wieder in den stinkenden Schoß des Alten drückten.
Eine dunkle Harmonie schlich sich in das aggressive Solo – damals hatte Yasemin sich gewünscht, zu sterben. Als der Widerling dann abspritzte, wollte sie, dass er starb.
Ihr Puls passte sich dem rasenden Beat des Schlagzeugs an. Die Vergangenheit tobte in ihr, schien aus allen Poren herauszudringen. Diese Spannung wurde für Yasemin auch körperlich immer unerträglicher. Ja – sein Griff hatte sich gelockert, sie hatte sich losreißen können, ihm sein eigenes Sperma ins Gesicht gespuckt. Danach gab es nur noch eins: rennen!
Jessica hämmerte einen Gegentakt zu dem alles beherrschenden Beat. Robert trieb die Rhythmik unbarmherzig voran. Yasemins Greifhand wechselte in die höchsten Lagen des Griffbretts, Mehmet schaltete einen Effekt zu und verwandelte den Klang der Saz so in den Sound einer Heavy-Metal-Screamer-Gitarre.
Die Töne erzählten eine Geschichte, brutal und schnörkelllos. Im Zentrum der Story stand zweifellos Yasemin selbst.
Fliehen war alles, was ihr noch geblieben war: rennen, davonlaufen. Immer wieder irgendwelchen Menschen vertrauen müssen, ohne eine Wahl zu haben. Sich verstecken lassen. Wieder und wieder. Viele nette, liebe und liebevolle Gesichter. Viel Aufmunterung hatte sie erfahren, aber auch ausgeliefert sein, Schläge und Vergewaltigung. Spüren, dass man nur ein Wegwerfprodukt war, etwas, das jeder wie benutztes Klopapier einfach aus seinem Leben spülen konnte. All das hatte sie durchlebt und gefühlt. Und sie glaubte nicht, dass diese Zerrissenheit je enden würde. Nicht für sie.
Die treibende Energie des Schlagzeugs, das Hämmern des Keyboards, das Wummern des Basses und der unbarmherzige Drive der Gitarre waren nicht mehr um sie herum: Alles war in ihr, sie war in allem. Sie drohte zu fallen, in einen endlosen Strudel aus Abschaum und Erniedrigung. Verschlungen von einem Fisch, der sie überall auskotzen konnte, wo er nur wollte. Und kein Ort der Welt würde je ihr Zuhause sein. So etwas würde sie niemals haben, wohin sie auch kam. Es würde immer nur eines geben: rennen, davonlaufen, fliehen. Der Sog der lauten, die Schmerzgrenze überschreitenden Klänge zog sie hinunter, tiefer und tiefer: Die Luft wurde knapp, ihr Herz pochte wild. Bass und Schlagzeug droschen auf ihre Wut, ihren Ekel, ihre Angst ein. Die letzten Reste von Hoffnung, die sie noch in sich trug, wurden unablässig von den heavy Sounds verprügelt, die Bilder der Erinnerung aus ihren Rahmen gefetzt. Alles bewegte sich auf einen einzigen letzten Ton zu, einen unermesslich hohen, schreienden, klagenden Laut. Gleichzeitig mit dem finalen Break der Band spielte Yasemin das höchste „G“, das ihre Saz hergab.
Johlender Beifall wäre das Mindeste gewesen, was der Intensität dieses Solos gerecht hätte werden können, doch bleiern legte sich Schweigen über die Szenerie. Die Musiker starrten das Mädchen fassungslos an, das zitternd und tränenüberströmt in ihrer Mitte stand. Wie ein kleines Kind seine Puppe, presste sich Yasemin ihre Saz an die Brust.
„Ich geh kurz hoch und mach mich frisch! Bestell mir doch bitte ein Wasser!“, flötete Ilka und war bereits in der Pension verschwunden. Prancock musterte nochmals skeptisch den Himmel: Solange kein Schamane die Wolken über dem „Joli Bois“ zum Abregnen bringen würde, wären die Chancen für eine gemütliche „Tea Time“ im Freien nicht mal so übel. Nur sehr vereinzelt saßen Gäste an den Gartentischen, tranken „Café au“ oder auch „sans Lait“, bearbeiteten verführerisch aussehende Kuchen und Tortenstücke mit edlen Gabeln oder schienen darauf zu warten, dass die Frühsommersonne ihr Aqua minerale verdampfte. Prancock suchte einen etwas abgelegenen Zweiertisch unweit einer friedlich dahinmodernden Gartenlaube. Er zog die Stühle hervor und setzte sich. Einige Sonnenstrahlen kitzelten ihn am Arm, ein schwaches Lüftchen regte sich, was man vom Personal allerdings nicht behaupten konnte. Musste man etwa an der Rezeption bestellen?
„Monsieur?“ Wie aus dem Nichts ertönte eine Stimme hinter Prancock. Dieser fuhr erschrocken hoch und sah sich um: Da stand ein Ober, der direkt aus der Gartenlaube herausgetreten war, die wohl auch als Lager diente. Der Kommissar hatte nur den Haupteingang des „Joli Bois“ observiert. Nach dem Schreck schnaufte er erst mal durch.
„Ein Wasser und einen schwarzen Tee, s’il vous plait!“, murmelte Fox verlegen.
„Kuchen?“, hakte der Kellner nach.
„Haben Sie eine Karte?“
„Na klar!“ Der Ober wandte sich zum Gehen, blickte in Richtung Rezeptionseingang, machte wieder kehrt und trat dicht an Prancocks Tisch.
„Monsieur?“, fragte er noch einmal, und bemühte sich dabei um Unauffälligkeit.
„Ja, was denn noch?“, fragte der Kommissar zurück. Er hatte die Wartezeit für ein Minutennickerchen nutzen wollen. Erst jetzt sah er dem Kellner ins Gesicht und erkannte ihn wieder: Es war der Servierer vom Vorabend, der sich so bedeckt gehalten hatte, was Ilkas flirtintensive Nachfrage betraf.
„Monsieur, gestern konnte ich nicht ganz frei sprechen, Sie wissen schon ...“ – er wies mit einer Handbewegung schnell in Richtung Eingang – „unser Chef wacht wie ein Höllenhund und Diskretion ist seine Bibel!“
„Wären ,Die satanischen Verse’ bei einem Zerberus nicht angebrachter?“, schweiften Fox’ Gedanken ab, aber seine Neugier erwachte. Er fokussierte seine Aufmerksamkeit sogleich wieder auf den jungen Mann.
„Sie haben nach diesem Engländer gefragt. Er fiel mir sofort auf, weil er einen deutschen Namen hatte, nicht etwa Smith oder Wesson ...“
„... sondern ,Finkenwald‘!“, ergänzte Fox die Ausführungen des Mannes prosaisch.
„Sie wissen?“, fragte der Ober. Er zog eine Schnute, als hätte ihn die Millionenfrage in einem Fernsehquiz völlig kalt erwischt
„Nur den Namen“, winkte Prancock schnell ab, „sonst nichts. Warum ist er Ihnen noch aufgefallen?“
„Nun“, sammelte sich der Servierer. Er starrte auf seine Finger, die versuchten, einen Knoten in die nächstbeste Serviette zu falten, „ich glaube, er hatte Angst.“