Plötzlich streckte er die Hand aus, so mir nichts, dir nichts, über das Essen hinweg. Damit hatte ich nun allerdings nicht gerechnet.
„Stompy“, sagte er.
„Was?“ erwiderte ich, und selbst die Kartoffelstücke bewegten sich fragend zwischen meinen mahlenden Zähnen.
„So heiße ich. August Stompy.“
„Ach so, ja.“ Ich ergriff seine Hand, schüttelte sie schwach. „Segwick. Friedrich.“
Wir aßen schweigend weiter, ich hatte den Blick auf meinen Teller gerichtet, er weiter auf mein Gesicht.
„Hast du letzte Nacht geträumt?“ fragte er, wieder unvermittelt. Entweder der Kerl hatte gehörig was auf dem Kasten und etwas zu sagen oder er war ein Kandidat für die Klapsmühle. Ich hielt die letzte Variante für wahrscheinlicher. Und sollte mich gründlich irren.
„Was ist denn das für eine Frage?“
„Eine gewöhnliche Frage. Sie ist so einfach, dass man sie kaum umformulieren kann.“
„Zumindest ist das keine Frage, die man beim Mittagessen stellt. Und keine, mit der man eine Bekanntschaft knüpft!“
„Sagst du! Aber ich finde, das ist die einzige gültige Frage! Alle anderen Fragen haben ausgedient. Du wirst es bald erfahren, wenn du offen bist.“
„Offen? Am Butt oder was? Nein, nein, lass mal gut sein! Offen brauche ich gar nicht zu sein. Nicht für so einen hergelaufenen Vogel, der merkwürdige Fragen stellt!“
„Merkwürdig.“ Stompy strich sich mit zwei aneinander gelegten Fingern über das Kinn. Er schien zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs, das er sich in dem Zwischenreich, in welchem man aus der Wirklichkeit in den Traum hinüber gleitet, ausgedacht zu haben schien. „Gutes Wort! Merkwürdig. Trifft die Sache so ziemlich genau. Ist es merkwürdig, dass die Sonne an jedem neuen Tag aufgeht? Ist es merkwürdig, dass uns nie die Fantasie ausgeht? Ist es merkwürdig, dass du beim Aufstehen immer noch derselbe Typ bist wie beim Zubettgehen? Bist du überhaupt noch derselbe Typ wie gestern?“
„Hör mal zu“, sagte ich, plötzlich ungehalten. Wenn mich etwas nervt, kann ich schnell die Fassung verlieren. Das geht schneller als ein Flatballspieler den Ball in die Luft bekommt. „Komm mir nicht mit diesem philosophischen Pferdemist! Mein Sohn bewirft mich schon jeden Tag zu Hause damit. Wenn es sich um tatsächlichen Mist handeln würde, hätte ich die höchste Wasserrechnung des Landes, so oft müsste ich dann unter die Dusche!“
„Ach so! Schön gesagt! Philosophischer Pferdemist! Ha!“ Sein Lachen war so falsch wie der Sonnenuntergang auf einem Werbeplakat. Aber sein Gesicht war vom Amüsement gezeichnet. Machte sich der Spinner lustig über mich?
„Aber vielleicht hörst du erst einmal zwei Minuten zu, bevor du mir so kommst!“ fuhr er plötzlich giftig fort. „Zwei Minuten, ja? Wenn du danach immer noch den Eindruck hast, es handele sich bei meinen zugegeben nicht gerade alltäglichen Ausführungen um etwas, das auf den Acker oder in die Toilette gehört, bin ich gerne bereit, ein letztes Wort in deine Richtung zu sagen, das so alltäglich ist wie Dünger oder Stuhlgang, nämlich: Tschüss!“
Die Ausdrucksweise Stompys ging mir schon jetzt auf den Zeiger, aber die Aussicht, ihn in zwei Minuten los zu sein, war eine Perspektive. Sollte er doch fortfahren mit seinem Geschwätz, in genau zwei Minuten würde ich diesem mit einem einfachen Hinweis auf die Uhr ein Ende bereiten!
Ich blickte auf meine Armbanduhr. Der Sekundenzeiger hatte gerade die Zwölf passiert und wanderte schon mit hurtigen Schritten in Richtung Drei, ein Mut machender Anblick. Ich gab meinem Gegenüber mit der einen Hand ein Zeichen, fortzufahren, während ich mit der anderen Hand die Gabel führte, die ein saftiges Stück Fleisch aufspießte.
„Schon mal was vom luziden Träumen gehört?“ fragte Stompy. „Natürlich nicht, ich sehe es schon am Fragezeichen in deinem Gesicht! Gut, ich versuche dir mal einen kurzen Abriss zu geben! Im Nachgang, wenn deine Neugier alle deine Bedenken und Vorbehalte in die Flucht geschlagen hat, kann ich dir immer noch stundenlange Vorträge halten.“
„Beeil dich lieber, ´ne halbe Minute ist schon um!“
„Gut. Zieh dann aber bitte deine Redezeit ab, wenn du mir schon so dazwischen fährst, sei ein fairer Schiedsrichter!“
Ich winkte ungeduldig, damit er endlich fortfahre. Er schien kein geeigneter Kandidat für knappe Ausführungen.
„Also beim luziden Träumen hast du dein Bewusstsein so sehr im Griff, dass du dir darüber im Klaren bist, dass du gerade träumst. Du nutzt also deine Traumzeit für schöne oder lehrreiche Erfahrungen. Es ist nicht dein Unterbewusstsein, das die Traumgeschichte zur Entfaltung bringt, du selber bestimmst die Geschehnisse. Du kannst überall hingehen, kannst alles tun. Ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen, die in der Wirklichkeit ja in der Regel höchst unangenehm ausfallen. Schon immer mal Lust gehabt, eine Bank zu überfallen? Eine Spritztour ins All zu unternehmen? Du kannst die Zeit auch nutzen, um eine neue Sprache zu lernen! Oder ist die sexuelle Schiene eher dein Ding? Hattest du schon einmal zwei, drei oder vier Weiber? Auf einmal, meine ich! Du kannst einen ganzen Harem haben, im Traum ist das möglich!“
Die zwei Minuten liefen aus. Ich lächelte. Dann lachte ich. Und schüttelte den Kopf. „Du willst mir doch irgendwas verkaufen! Was ist es? Das Ebook, in dem ich das alles noch einmal im Detail nachlesen kann? Was du mir zum ‚Spottpreis’ von ’nem halben Vermögen anbietest?“
Stompy lächelte müde, als habe er diesen Einwand erwartet. „Mit Verlaub, aber bei dir ist doch nichts zu holen! Bei unserem Gehalt sind Extraausgaben tabu. Wenn es mir ums Geld ginge, würde ich durch die Villenviertel ziehen! Im Übrigen ist all das, was ich dir hier nahe zu bringen suche, im Internet nachzulesen. Im Grunde genommen brauchst du mich gar nicht!“
„Sehr schön!“ sagte ich, nahm mein Tablett, auf dem sich jetzt nur noch schmutziges Geschirr, kein Essen mehr, befand und wandte mich zum Gehen. „Dann bin ich jetzt auch weg!“
Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken und noch etwas anderes. Etwas, das von unten kam, aus dem Unterbauch hinaufstieg, als kribbelndes Gefühl, und schließlich als Gedanke in meinem Kopf enden sollte. Doch so weit war es noch nicht.
Der Himmel leuchtet azurblau. Er ist hell, und trotzdem ist die Sonne nicht in Sicht. An ihm hängen die Sterne und der Mond – der volle Mond –, als habe sie dort jemand hin geklebt. Der Boden unter meinen nackten Füßen ist hart und trocken, sonnengebräunter Lehm, dessen matschige Konsistenz wohl eine Million Jahre zurückliegt. Ich bewege mich wie unter Wasser, die Luft sträubt sich gegen meinen Körper, und kaum habe ich einen Fluch auf den Lippen, um mich darüber zu beschweren – bei wem auch immer -, wird die Luft plötzlich schneidend dünn, und jetzt setze ich mich in Trab. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Dieser Gedanke hämmert meinen Schädel weich, im Rhythmus meines pumpenden Herzens. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Keine Zeit zu verlieren.
Der Himmel spannt sich weit und mächtig über die nackte Landschaft. Ich sehe bis zum Horizont, und der einzige Gegenstand, an dem mein Blick hängenbleibt, ist ein herrschaftliches U-förmiges Gebäude, das grob geschätzt 20, 30 Kilometer entfernt von mir liegt. Es kann sich natürlich auch um eine Strecke von 100 Kilometern handeln, so ganz ohne Referenzpunkt muss in dieser Gegend jede Schätzung scheitern.
Das ist es, denke ich, und ein Schauer läuft mir kalt über den Rücken. Das Haus der tausend Sünden.
Ich werfe meinen Motor an und überwinde die Strecke wie im Schlaf, und ich muss grinsen über den Vergleich, weil da so viel Wahrheit drinnen steckt wie in einem Bonmot von Balzac.
Wie im Schlaf. Ha ha!
Das Gebäude ist weiß, und Efeu rankt sich um die Flanken wie die Arme der Geliebten, die einen nicht gehen lässt. Ein schmiedeeisernes Tor, drei oder vier Meter hoch, mit einem Wappen in der Mitte (fleischige Lippen umschließen einen stolzen Phallus), spricht zu mir. Es fragt mich nach dem Codewort. Noch bevor ich darüber nachdenken kann, höre