Flat Friedrich. Serge Elia Lomi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Serge Elia Lomi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844240191
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für ungut!“

      „Kommt vor“, sagte ich, obwohl ich fand, dass eine solche Verwechslung Einzug in das Guinness-Buch der Rekorde halten sollte.

      Wir arbeiteten weiter, stumm; der Lärm der Maschinen machte ohnehin jede Unterhaltung zur Kraftanstrengung. Ich befestigte Bauteil Nr. 34 an Bauteil Nr. 33 und schnappte mir Bauteil Nr. 35, bei dem es sich um eine aerodynamische, etwa 30 cm lange Röhre handelte, die an ihrem Ende jeweils links und rechts kugelig ausfiel und deren Sinn mir bislang verborgen geblieben war. Ich hatte mir aber auch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht; ich war ohnehin nur ein einfacher Arbeiter, und solange pünktlich am Monatsende das Gehalt auf meinem Konto einging, war alles gut, ich war zufrieden. Ich baute Raketen und hatte damit Anteil an der Kolonialisierung des Weltraums, das war eine grundanständige Sache, fand ich, und dieses Wissen um den Verbleib meiner Arbeitskraft genügte mir vollkommen. Wenn ich nun in einer Fabrik der Faschisten gestanden hätte, um besonders monströse und neuartige Waffen zu bauen, hätte es mich aber auch nicht weiter gestört; mir ging es nur darum, meine Familie durchzubringen. Ich wollte einfach leben und es mir im Rahmen meiner Möglichkeiten so gut wie möglich gehen lassen.

      Chory stand mit einem Mal wieder dicht an meiner Seite, viel zu nah für meinen Geschmack. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich in seinem Nasenhaar verheddert. Sein hageres Gesicht mit der markanten Nase und der von Falten gesäumten Stirn war wie eine Landschaft voller Gruben und Fallen.

      Ich ging unwillkürlich einen Schritt auf Abstand. Abgesehen von dem üblichen Schweißgeruch des Arbeiters verströmte Chory zwar keinen Gestank, aber seine Nähe bereitete mir Unbehagen. Ich kam mit Menschen im Allgemeinen ganz gut klar, aber wenn mir jemand zu dicht auf die Pelle rückte, wurde ich unruhig. Als hätte ich Ameisen in den Unterhosen.

      „Aber eigentlich, ganz ehrlich, was spielt das denn für eine Rolle, dass ihr uns noch nie besucht habt, ihr solltet uns gerade deswegen die Ehre erweisen, denn schließlich – wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen in einem Sektor?“

      Ich überschlug die Zeit und erwiderte kühl: „Fünf, vielleicht sechs Jahre.“

      „Verdammt!“ Chory lachte heiser. „Dann kommen wir wohl bald in unser verflixtes siebentes Jahr, was?“

      Ich sagte nichts. Ich bin einer von denen, die nicht immer etwas sagen müssen. Sehr oft ziehe ich das Schweigen vor.

      „Höchste Zeit für eine Einladung zum Dinner, was meinst du?“

      Ich sagte nichts.

      „Ich muss dir etwas zeigen. Etwas, was dir gefallen wird. Es könnte dein Leben verändern!“

      Ich schwieg.

      „Also abgemacht, Samstag, 13 Uhr, Virginia-Woolf-Boulevard 11, da wohnen wir, danke für euer zahlreiches Erscheinen! Ihr seid doch zahlreich?“

      Als ich nach Hause kam, waren, wie so oft, die Kinder noch auf den Beinen. Ich hätte es vorgezogen, einfach in der Couch zu versinken, die Beine hochzulegen und Sturzbäche kalten Biers die Kehle hinunterlaufen zu lassen, während die TV-Wall die neuesten Abenteuer von Curtis Taylor, dem Weltraumhelden, präsentierte oder ein Flatball-Game der Nationalmannschaft.

      TV-Wall – benannt nach ihrem Erfinder, Arthur Jerome Wall (2012-2064): eine zimmerwandgroße Fernsehtransmissionsfläche, seit den 60er Jahren des 21. Jahrhunderts Standard in jedem Wohnzimmer.

      Flatball – Spiel, das sich seit den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts zunehmender Beliebtheit erfreut und in vielen Ländern den Fußball als Volkssport Nr. 1 ablöst. Ziel des Spiels ist es, den Ball ins gegnerische Tor zu bugsieren, indem man ihn – mit welchem Körperteil auch immer – in einer Höhe von höchstens 50 cm bewegt. Das Tor ist ein 2 x 2 Meter großes Loch im Boden, das durch einen in der Regel höchst aggressiven Torhüter bewacht wird, der jedes Mittel – auch Gewalt - anwenden darf, um herannahende Bälle abzuwehren. Die meisten Spiele enden 0:0.

      Aber die Realität sah anders aus. Ich war Familienvater, und das ist ein Job, bei dem man in ständiger Bereitschaft ist, der einen nie wirklich die Beine hochlegen lässt, und selbst wenn man einmal so weit kommt, womit man schon im Übermaß vom Glück begünstigt ist, so ist es noch eine weite Reise bis zum Himmelreich der Entspannung.

      Da meine Frau in letzter Zeit abgebaut hatte und ich mir in ständiger Erwartung ihres Nervenzusammenbruchs bereits ein paar Notrufnummern zurechtgelegt hatte, war ich besonders gefordert. Aber ich beschwerte mich nicht. Kinder sind eine tolle Sache. Sie öffnen den Horizont. Mit ihnen reitet man in das Reich der Fantasie. Ein Leben ohne ihre Gesellschaft wollte ich mir nicht ausmalen. Sie war eine willkommene Alternative zur TV-Wall, vor der man, als handelte es sich dabei um eine elektronische Ausführung der Mutter, die einen in den Schlaf singt, regelmäßig in Schnarchen und Sabbern verfiel. Aber gegen ein paar Tage ohne Kinder einmal im Monat hätte ich nichts einzuwenden gehabt.

      Kaum hatte ich per IC die Tür zu unserer 100-Quadratmeter-Wohnung geöffnet, sprang mir auch schon Ben die Beine hoch, ein Knirps von vier Jahren, der jüngste Spross der Familie.

      IC (Identity Check) - Fingerabdrucköffnungssystem

      „Daddy!“ rief er. „Hast du mir was mitgebracht?“

      „Na klar“, antwortete ich, beugte mich zu ihm hinab, um ihn kurz darauf in meine Höhen auffahren zu lassen. Ben kaute auf einer undefinierbaren Masse herum, die offenbar sein Abendessen darstellte. Sein blondes Haar stand ihm in unbezähmbaren Büscheln vom Kopf, als handelte es sich bei ihm um eine Kinderausgabe Einsteins. Er roch nach einem lebhaften Tag, den er zweifellos wieder mit seiner Lieblingsbeschäftigung zugebracht hatte: Mummy auf Trab halten.

      „Was denn, was denn?“ fragte der Knirps und schlug in freudiger Erwartung die Hände aneinander.

      „Eine Eintrittskarte für den Solaris-Spielplatz“, sagte ich.

      „Solaris-Spielplatz?“

      „In der Solaris-Straße. Du weißt schon, den mit der großen Rakete und dem Mars, auf den man klettern kann.“

      „Und du hast eine Eintrittskarte?“

      „Klar. Hat mich ein Vermögen gekostet!“ Ich zog einen Prospekt aus der Innentasche meiner Jacke, auf dem Potenzmittel beworben wurden und den mir ein Arbeitskollege einmal zugesteckt hatte. „Hier siehst du: Da steht’s, Eintritt für den Solaris-Spielplatz, Wert: 2 Universaltaler.“

      Universaltaler, kurz: U-Taler – Währung der eurasischen Zone seit 2028 (1 Universaltaler= 1,3 Euro des Jahres 2012)

      „Ja?“ Ben nahm den Prospekt. Seine Stirn wurde vom Zweifel aufgescheucht und warf Falten. „Aber letztens, als wir da waren, brauchten wir keine Eintrittskarte!“

      „Ja, aber der Spielplatz erfreut sich jetzt so großer Beliebtheit, dass nur noch ausgewählte Kinder Zutritt erhalten, und du bist dabei: freu dich!“

      Ben riss die Arme hoch, ein Lachen zerstörte den Zweifel, der sich in sein Gesicht gegraben hatte. „Hurra!“ Und er sprang von meinen Armen und lief sogleich zu meiner Angetrauten, um ihr die Neuigkeit kundzutun. “Mummy, schau mal, was mir Daddy mitgebracht hat!”

      Ich trat ein paar Schritte weiter in die Wohnung, streifte die Schuhe ab und meinte zu sehen, dass Dampfschwaden von meinen Füßen hochstiegen, ein Bild aus einem Comic, das ich halluzinierte. Als ich wieder aufblickte, blieben meine Augen an Nick hängen, mit seinen neun Sommern auf dem Buckel die älteste Junior-Ausgabe von mir. Er stand breitbeinig im Flur und lächelte matt, als sich unsere Blicke trafen.

      „Und - hast du mir auch was mitgebracht?“

      „Natürlich, na klar“, antwortete ich hastig und fühlte mich mindestens so schuldig wie der Killer, den man, auf seinem ausblutenden Opfer kauernd, ertappt hat. Nick machte man so leicht nichts vor. Ich griff in meine Jackentaschen, in die linke, in die rechte, um die suchende Hand dann auch in die Innentasche verschwinden zu lassen und stieß zuletzt einen lautlosen Fluch aus.

      „Ich hab’s vergessen! In der Fabrik liegengelassen! Du bekommst es morgen, ja? Wie war’s in der Schule?“

      „Du