Ich gehe eine in Serpentinen angelegte Einfahrt hinauf. Mein Schritt verlangsamt sich, und ich schnaufe noch ein wenig von der Anstrengung, die hinter mir liegt. Auch wenn man die Dinge wie im Schlaf erledigt, hinterlassen sie doch Spuren.
Dann stehe ich am Fuß einer in Cinemascope angefertigten Treppe. Ihre Stufen sind so breit, dass mein Blick sie ohne Drehung des Kopfes nicht vollständig erfassen kann.
Es sind vier Stufen. Jede Stufe, die ich zurücklege, erzeugt ein neues Wort in meinem Kopf.
Befreie – die – missbrauchten - Frauen.
So lautet meine Mission.
Ich betätige die Klingel. Sie ist so klein und unscheinbar, man kann sie leicht übersehen. Sie hebt sich von der Hauswand ab wie ein Muttermal von einem Körper.
Fast augenblicklich kommt Bewegung in die Szene, die Tür schwingt zurück. Ein breitschultriger Riese in weißem Anzug öffnet die schwere, holzvertäfelte Tür, dessen Mitte wieder dieses Wappen trägt. Die Relationen des Riesen haben ungefähr so viel mit Vernunft zu tun wie meine Mission mit der Wettervorhersage. Seine Hände sind wie Schaufeln, ich schätze, ich könnte zur Hälfte darin verschwinden. Die zwei-Meter-Arme hängen wie nutzlos herab, aber der Typ braucht nur einmal auszuholen, und die Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war. Sein Kopf hingegen ist eine Stecknadel im Vergleich zu seinen übrigen Ausmaßen. Ich kann gerade einmal erkennen, dass sich sein Mund in kauender Weise bewegt.
Er blickt eine Weile zu mir herab, eine Weile, die eine Ewigkeit zu währen scheint, und sein Gesicht ist eine finstere, dräuende Masse, ehe es in Wallung gerät und sichtlich an Farbe und Frohsinn gewinnt. „Willkommen, Gast! Treten Sie doch näher!“
Der Riese tritt höflich einen Schritt zurück – ich glaube, die Erde beben zu hören - und deutet mit einem Arm ins Innere des Hauses.
Ich folge der Einladung des Riesen und übertrete die Schwelle des Hauses. Wenn ich wollte, wenn ich wirklich wollte, bräuchte ich nur einmal auszuatmen, und der Riese samt Haus und allen weiteren Einzelheiten würde sich in Luft auflösen ... Aber was hätte ich davon? Ich will meine Mission erfüllen. Da drinnen warten eine Menge verlorener Seelen auf jemanden wie mich, ihre genaue Anzahl kenne ich nicht. Diese muss ich retten.
Ich befinde mich in einer schmucken Eingangshalle mit hoher Decke. In die Wände sind in bildhauerischer Kunst Szenen der griechischen Mythologie eingearbeitet sowie Szenen aus dem Werk von de Sade. Es ist ein wildes Bildgemisch, das die Augen betäubt und die Lider flattern lässt. Götter schweben in erhabener Positur über dem Schicksal der Menschen, die es sich angelegen sein lassen, ihre Geschlechtsteile in Position zu bringen. Kopulierende Körper sind so ineinander verschlungen, dass man ihre Gliedmaße nummerieren und eine erklärende Legende fertigen müsste, um Ordnung zu schaffen.
Für einen scheinbar endlosen Moment bleibt mir die Luft weg. Der Riese wartet geduldig. Er kennt ihn wohl schon, den staunenden, umherschweifenden Blick, von anderen Gästen. Dann, um mich aus der Trance in die Wirklichkeit zurückzuholen, sagt er: „Hatten Sie eine angenehme Anreise?“
Es hat etwas Komisches, den Blick von den Körperteilen abzuwenden und ihn wieder auf den Riesen zu richten. Er ist die Förmlichkeit in Person, so schwer und klobig er auch daherkommt.
„Ja“, sage ich und entscheide, dass ich es mir erlauben kann, etwas mehr von meiner Situation preiszugeben: „Na ja, die Rakete ist mir abgeschmiert, ich musste notlanden und die letzten Kilometer zu Fuß zurücklegen, also, ich bin ein bisschen müde, aber ich bin froh, hier zu sein, endlich! Ich habe schon viel von Ihrem Haus gehört!“
Je mehr Worte man macht, belanglose, gewöhnliche Worte, desto weniger Verdacht erregt man.
„Es ist ein tolles Haus. Sie werden alles so vorfinden, wie Sie es sich wünschen!“
Der Riese fasst meine Schultern und dreht mich gegen die Wand. Dann tastet er mich ab, nach Waffen oder sonstigem Kram, der in diesen Räumen verboten ist.
„Reine Routine“, sagt er, und in seinem Tonfall schwingt die Nachricht mit, dass er diese Worte unzählige Male am Tag von sich gibt.
Als er fertig ist, hebt er wieder die Hand – ich weiche geistesgegenwärtig einen Schritt zurück – und deutet in die Tiefe der Eingangshalle, wo sich ein Raum öffnet.
„Bitte nehmen Sie doch im Wartezimmer Platz! Sie werden dann aufgerufen! Ihre Nummer ist die 22!“
Ich gehe ins Wartezimmer, an dem Riesen vorbei und habe für einen Moment die schreckliche Vorstellung, dass ich ein Wurm sei, der am Rand seines Schuhs um sein Leben fürchten muss. Aber die Vision verschwindet, noch ehe ich es tatsächlich mit der Angst bekommen kann. Ich rufe mich innerlich zur Ordnung, balle die Fäuste an meiner Seite und erinnere mich daran, wer ich bin. Wenn ich hier aufgeräumt habe, wird vom Riesen allenfalls sein Stecknadelkopf übrig sein, und der wird ein letztes Mal tonlos seufzen, ehe er ins Nirwana purzelt ...
Ich betrete das Wartezimmer, das groß und hoch ist und mit ledernen, gepolsterten Stühlen aufwartet. An der Wand hängen erotische Gemälde aus vielen hundert Jahren Kunstgeschichte. Es handelt sich um Originale. Ich weiß es so sicher wie ich weiß, dass in den Kellern dieses Hauses unvorstellbare Dinge vor sich gehen. Unvorstellbar? Ich werde sehen ...
Männer in Anzügen warten hier. Es sind acht an der Zahl, ich bin der neunte. Der eine oder andere blickt auf und nickt mir stumm zu. Der überwiegende Teil scheint mein Eintreten gar nicht zu bemerken. In ihrem Schoß, über dem sich streckenden Geschlecht, bäumen sich elektronische Bücher. Sie lesen mit fiebrigen Lippen, ihre Augen reiten im Galopp über die Zeilen.
Aus kleinen, in die Wand eingelassenen Lautsprechern dringt das weibliche Stöhnen sexueller Begierde. Von geilen Weibern ausgestoßene Satzfragmente bilden darin die Spitzen, die einen wohligen Schauer in der männlichen Zuhörerschaft auslösen. Sie erzeugen den Wind, der das erotische Feuer weiter anfacht.
Ich streiche mir den Staub von der Krawatte und nehme Platz. Mein Blick wandert an den meterhohen Wänden hoch, an den ebenso in Wonne wie in Farben getränkten Gemälden vorbei, und endet am Dachfenster, durch das gleißendes Licht in den Raum fällt, ich muss blinzeln. Architekt und Einrichter haben einen Preis verdient, finde ich. Der Ort ist ebenso einschüchternd wie einlullend, je nach Betrachter. Wenn man sich fallen lässt und entspannt zurücklehnt, gleicht der Aufenthalt einer Meditation.
Ich greife nach dem für mich bereitgestellten Ebookreader an der Flanke meines gepolsterten Sitzes. Der Bildschirm leuchtet auf, und die Auswahl erotischer Literatur umflirrt mein wankendes Gemüt. Ich entscheide mich schließlich für den Roman eines schwedischen Autors, wie es scheint, zumindest lässt sein Name schwedische Herkunft vermuten, ich habe nie von ihm gehört. Jonas Lundgren prangt in fetten Lettern über dem Titel des Romans: Das Geheul der Göre.
Männliche Allmachtsfantasien gewürzt mit einer ordentlichen Prise Frauenverachtung und einem Schuss expliziter Schilderungen, denke ich und beginne zu lesen.
Kapitel 1
Nächtliches Heulen
„Hörst du nicht? Friedrich! Friedel!“
Sie schüttelte ihn, zunächst sanft, dann heftiger.
„Deine Tochter! Sie schreit!“
Er stöhnte. Die Luft, die er ausstieß, stank nach Schlaf und Abenteuer. Beides musste sich nicht ausschließen. Schließlich konnte man im Schlaf die ungehörigsten Sachen erleben. Von denen man bei Tag noch nicht einmal zu träumen wagte.
„Friedrich! Du schläfst doch gar nicht! Du simulierst doch!“
Ich öffnete die Augen. Die zornesrote Fratze meiner Frau befand sich nur wenige Zentimeter über meinem Gesicht, das sich anfühlte, als hätte man es mit Hammer und Meißel bearbeitet und dann in Watte gepackt.
„Deine Tochter! Hörst du nicht?“
Felicitas schrie tatsächlich. Schrie und weinte.
Mit