Felicitas bestand darauf, dass ich die Ballons regelmäßig beim Luftballonhändler um die Ecke mit Gas befüllen ließ, damit sie auch nicht schlappmachten und als kläglicher Rest eines schönen Tages im Staub landeten.
Die Wände waren voll von Bildern des Lieblings aller Mädchen, Sandy Spacelight. Was sie genau darstellte, hatte ich nie verstanden. Sie sah aus wie eine Kreuzung aus einem Kätzchen und einem Äffchen, trug ein Weltraumkostüm und eine rosa Schleife auf dem Astronautenhelm. Auf den Abbildungen kämpfte sie mit seltsamen Weltraumviechern oder lag zwischen Blumen und Bienen und meditierte. Jedes Kind braucht jemanden zum Aufschauen, und Sandy Spacelight war die Heldin eines ganzen Universums von Mädchenseelen.
Felicitas war, wie die meisten Mädchen ihrer Generation, Mitglied im Sandy-Spacelight-Starclub. In meinen Augen war das eine unselige Geldmacherei: Felicitas erhielt eine Monatszeitschrift und gelegentlich eine Einladung zu einem Special Event, und mir gingen jeden Monatsanfang 10 Universaltaler flöten, die „außerordentlich günstige Clubgebühr“. Aber meine Tochter ließ sich die Clubmitgliedschaft nicht ausreden. Ich hatte bereits mehrfach erfolglos den Versuch unternommen. Es kam einem Wunder gleich, dass ich aus diesen Unterredungen unversehrt hervorging. Ich hätte meine Tochter ebenso bitten können, vom Balkon zu springen.
In der Puppenecke lagen und saßen rund zwei Dutzend künstlicher Schönheiten und warteten darauf, dass man ihnen die Nägel lackierte, ihre Frisuren pflegte oder einfach ein paar Worte an sie richtete.
Genauso wartete meine Kleine in ihrem Bett auf ihre Geschichte. In Schönheitsfragen übertraf sie ihre künstlichen Gefährten bei weitem, wenn man mich fragte. Ihr längliches, immer ein wenig zu blasses Gesicht war auf dem besten Weg, eines herzzerreißenden Tages die Konturen und Ebenmäßigkeit eines Modellgesichtes anzunehmen. Die blauen Augen, das blonde Haar, die fein modellierte Nase taten ihr Übriges, um mich jedes Mal dahinschmelzen zu lassen, wenn sie aus diesen übergroßen Augen zu mir aufschaute und darauf wartete, dass ich ihren Wunsch erfüllte. In ihren bizarren Forderungen erinnerte sie mich oft an meine Frau. In allem übrigen kam sie eher nach mir.
„Was lese ich dir denn heute vor?“ fragte ich und wandte mich schon in Richtung des Bücherregals, wo die gesammelten Abenteuer von Sandy Spacelight darauf warteten, in Felicitas’ Kopf einzufahren.
„Nichts!“
„Was soll das heißen: nichts?“
„Nichts heißt nichts!“ gab mir meine Tochter mit der unwiderstehlichen Logik des kleinen Mädchens zu verstehen.
„Na gut, dann decke ich dich richtig zu, streichele dir einmal durch dein Haar, wünsche dir eine gute Nacht und ...“
„Sandy ist blöd!“ rief meine Tochter, und ich fuhr zusammen. Wir können schimpfen, wir können mahnen, aber wenn auf einmal das Objekt unserer Missgunst eigenhändig vom Kind zerschlagen wird, ist es, als nehme man uns die Luft zum Atmen.
„Also, das sind jetzt deine Worte, ich hätte das vielleicht anders ausgedrückt“, sagte ich, als ich die Fassung so einigermaßen wiedererlangt hatte. Mein wandernder Blick blieb an einem Gegenstand hängen, der mir zuvor entgangen war: Es war die Kuscheltier-Version von Sandy Spacelight, und sie war von ihrem angestammten Platz, dem Bett, verbannt worden und lag nun, Gesicht nach unten, auf dem Boden.
„Genau das sind deine Worte“, gab meine Tochter zu bedenken, und ich wunderte mich wieder über ihre Art, die manchmal so schneidend kalt war wie ein Polarwind.
„Ja, ok, vielleicht habe ich das mal so gesagt, aber gemeint habe ich doch eigentlich, dass Sandy, bei aller Liebe, die man für so ein, so ein ... Wesen aufbringen kann und vielleicht auch sollte, dass sie manchmal schon ein bisschen nerven kann, aber nur ein bisschen ...“
„Sie ist so überflüssig wie Krebs im Endstadium!“
„Äh ... was?“
„Hast du gesagt! Zu Mum!“
„Ähm ... ja, manchmal sagt man Sachen, die man erstens nicht so meint und an die man sich zweitens im Nachhinein gar nicht mehr erinnern kann ...“
„Du hattest Recht damit!“
„Was?“
„Sandy ist doch nur eine Erfindung, um uns Mädchen davon abzuhalten, einen wirklich klugen Gedanken zu fassen und hinter die Dinge zu schauen ...“
„Hast du das von Nick? Ich meine, er hat Recht, Feli ...“
„Nein, darauf bin ich ganz alleine gekommen! Und hör auf, mich Feli zu nennen, bin doch kein Püppchen, deren Namen man auf den kleinsten Nenner bringt, nein, ich bin ein Mädchen, und zwar eines mit Herz und Hirn!“
„Feli ...“
„Hast mich Felicitas genannt oder zumindest zugelassen, dass ich so genannt werde und willst jetzt die Unannehmlichkeiten dieses Namens – nämlich seine Vielsilbigkeit – nicht in den Mund nehmen!“
Ich war baff. Ich sagte nichts. Ich benötigte erst einmal ein halbes Leben oder zumindest ein paar Jahre, um wieder zu mir zu kommen. Aber diese Zeit wurde mir nicht gegeben.
„Kannst mir lieber mal von deinem Tag in der Fabrik erzählen, anstatt mir diese süßlichen, einlullenden Kleinmädchengeschichten zu verabreichen! Wie eine Medizin!“
„Feli ...“
„Ich heiße Felicitas. Fe-li-ci-tas! Ist das so schwer zu verstehen?“
„ ... hast du Drogen genommen?“
„Nur weil ich die Wahrheit erkenne, soll ich jetzt Drogen genommen haben? Ha!“
Felicitas verschränkte die Arme über der Brust und wandte sich gegen die Zimmerwand. In dieser Geste hatte sie erschreckende Ähnlichkeit mit meiner Frau. Und ich nahm unwillkürlich die Rolle ein, die ich auch bei meiner Frau spielte, wenn sie an der Zimmerwand plötzlich mehr Gefallen fand als an mir.
„Das meine ich doch gar nicht, ich bitte dich, du verhältst dich nur so ... so anders ...“
„Darum sind wir Menschen. Weil wir uns verändern.“
„Ja. Also gut. Ich erzähle dir von meinem Tag.“
„In der Fabrik!“
„In der Fabrik.“
Felicitas wandte sich wieder mir zu, mit betörendem Augenaufschlag. Verdammt, dachte ich, wer hat ihr eigentlich beigebracht, so zu sein, so durch und durch weiblich, durchtrieben; sind die Gene Schuld, meine Frau, habe ich versagt oder ist am Ende Sandy Spacelight zur Verantwortung zu ziehen?
„Also, ich weiß jetzt gar nicht, wo ich einsteigen soll, es ist auch ziemlich langweilig ...“
„Erzähl einfach, was du tust. Und warum du es tust.“
Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl nach vorne. Der Blitz der Erkenntnis, der selbst dem Dümmsten ins Mark fährt, durchzuckte mich: Die Wahrheit ist ein schwer verdauliches Ding. Sollte ich ihr 1:1 berichten, maßstabsgerecht, ohne Aufbauschungen, Übertreibungen oder sollte ich hier und dort an den Ecken schmirgeln und schleifen, mir selber Politur verpassend, um ein bisschen strahlender aus der Angelegenheit hervorzugehen? Selbst wenn ich es gewollt hätte, die Wahrheit kam mir nicht über die Lippen, und ich wollte sie meiner Kleinen auch nicht zumuten. Ich ertrug sie ja selber nur mit einer gehörigen Dosis Tagträumerei. So entschied ich mich für die geglättete Version meines Arbeitstages.
„Also, du weißt, dass ich Raketen baue, das hört sich jetzt langweiliger an als es ist ...“
„Eben sagtest du noch: Es ist langweilig!“
Die war ganz schön auf Draht, die Kleine, ich musste aufpassen, dass ich mich nicht verzettelte.
„Nun gut, wenn man eine Sache täglich macht, dann ist sie am Ende für einen ziemlich gewöhnlich, während derjenige, der nur davon hört, die Hände zusammenschlägt und ein pfeifendes Geräusch verursacht, vom Staunen angefacht ...“